
Sodabob - Das Blumenfest
Es war der Höhepunkt des Jahres 1988 in der Gartensiedlung Neugebäude: das Blumenfest, auch „Tag der Blume“ genannt. Monatelang hatten die Bewohner gemeinsam darauf hingearbeitet. Im Mittelpunkt standen die Blumen – überall duftete es nach Rosen und Lilien. Wochenlang hatten die Siedler ihre Gemeinschaftsflächen und privaten Gärten gehegt und gepflegt. Inoffizielle „Verschönerungswettbewerbe“ entfachten den Ehrgeiz der Gartenbesitzer.
Das Fest verlangte organisatorisches Geschick. Ein großes Zelt wurde aufgestellt, Tische und Bänke arrangiert, eine Bühne für Musik und Reden errichtet. Die Männer der Siedlung packten kräftig an, während die Frauen Kuchen backten, Speisen vorbereiteten und Dekorationen bastelten. Selbstgemachte Handwerksstücke boten sie später zum Verkauf an. Der Vereinsvorstand plante das Programm, und die Jugendgruppe probte monatelang ein Theaterstück. Für die musikalische Unterhaltung sorgte die Siedlungsband „Old Memories“ mit Rock ’n’ Roll – sie garantierte gute Laune und ausgelassene Stimmung. Es sollte ein unvergesslicher Abend werden, der bis tief in die Nacht andauern würde. Doch eine Sorge blieb: das Wetter. Die Organisatoren hielten einen Plan B bereit, um bei Regen das Schutzhaus zusätzlich zum Zelt zu nutzen und niemanden im Nassen stehen zu lassen.
Am Festtag erstrahlte die Siedlung in voller Blütenpracht. Wohin man blickte, leuchteten Blumen in allen Farben. Die monatelange Vorbereitung zahlte sich aus: Die Bewohner feierten stolz ihre Gärten, genossen das fröhliche Beisammensein und freuten sich über das gemeinsam Erreichte. Dieses Fest schweißte die Gemeinschaft enger zusammen und sicherte die Fortführung der Tradition. Der Andrang war überwältigend – so viele Besucher hatte es noch nie gegeben. Die Stimmung war ausgelassen, die Gemeinschaft enger als je zuvor. Selbst Tiere, die sonst solche Feste mieden, ließen sich blicken. Sie alle erlebten einen unvergesslichen Abend – und mittendrin: Sodabob.
Im Schatten der Gartensiedlung Neugebäude, einem Labyrinth aus liebevoll gepflegten Parzellen zwischen dem imposanten Renaissance-Schloss und dem Wiener Zentralfriedhof, herrschte ein Kater namens Sodabob. Er war nicht einfach schwarz – er verkörperte Mitternacht, ein wandelnder Schatten mit Augen, die wie zwei kleine, gelbe Laternen leuchteten. Seine Neugier kannte keine Grenzen, er wollte alles wissen und erleben.
Sodabobs engster, wenn auch ungewöhnlicher Freund war Monti, ein Marder mit silbrig glänzendem Brustfleck und einer Schwäche für alles, was funkelte und essbar war. Monti plante, Sodabob handelte. Zusammen bildeten sie ein gefürchtetes Duo – zumindest für die Mäuse und die Besitzer ungesicherter Komposthaufen.
An diesem Abend lag Aufregung in der Luft. Das jährliche Siedlungsfest stand bevor. Lichterketten spannten sich über die Wege, Bänke standen bereit, und der Duft von Gegrilltem mischte sich mit dem süßlichen Aroma von frisch gebackenem Apfelstrudel, einer Tradition in Neugebäude. Menschen lachten, Musik erklang, es wurde getanzt – die Atmosphäre pulsierte vor Leben und Wärme.
Sodabob und Monti beobachteten das Fest von ihrem Stammplatz auf dem Dach eines kleinen Gartenhäuschens. "Das ist es, Monti", schnurrte Sodabob und wetzte seine Krallen an der Dachpappe. "Chaos, Gerüche, unbewachte Leckereien –unsere Nacht."
Monti, der mit seinen kleinen Pfoten bereits Pläne in den Staub zeichnete, nickte eifrig. "Die 'Operation Chaos-Schmaus' kann starten. Die Menschen sind abgelenkt, Sodabob. Sie bemerken nicht die Schatten, die sie übersehen."
Ihr erster Streich war ein Klassiker: der Würstchendiebstahl. Herr Fredy, ein älterer Mann mit beeindruckendem grauem Schnurrbart, stand am Grill und wendete Bratwürste mit Hingabe. Der Duft war betörend.
Monti huschte unter den Biertisch, während Sodabob sich lautlos durchs hohe Gras an den Grill heranschlich. Als Herr Fredy sich bückte, um eine neue Packung Würstchen aus der Kühlbox zu holen, schlug Monti zu. Er sprang auf den Tisch, schnappte sich eine dampfende, noch nicht ganz durchgebratene Wurst und verschwand im nächsten Moment wieder unter der Bank.
Ein empörter Aufschrei hallte durch die Luft. "Mein Gott, die Marderplage!" rief Herr Fredy und starrte fassungslos auf den leeren Platz. Die Gäste lachten, hielten es für einen Scherz. Nur Sodabob wusste es besser. Er traf sich mit Monti im Gebüsch, und gemeinsam teilten sie die Wurst – köstlich war sie.
Doch die beiden Lauser hatten noch mehr vor. Sodabob kletterte aufs Dach des Gemeindehauses, um alles im Blick zu behalten, während Monti sich unter den Ständen versteckte.
Als Frau Huber, die unangefochtene Königin des Blumenfests, mit ihrer makellosen Geranie die Bühne betrat, gab Sodabob das Signal. Monti, der sich unbemerkt in einen Eimer mit Wasser geschlichen hatte, sprang mit einem lauten Platschen hervor – direkt vor die Füße des Siedlungsobmanns. Das Wasser spritzte in alle Richtungen, durchnässte die Jury und stiftete Chaos unter den Zuschauern. Frau Hubers Geranie fiel um und zerbrach in tausend Stücke.
Die Menge starrte entsetzt, während Sodabob und Monti in ihrem Versteck kicherten. "Das war erst der Anfang", schnurrte Sodabob zufrieden. "Ja, jetzt geht’s richtig los", erwiderte Monti.
Als Nächstes stand der Gurkenwettbewerb an. Herr Müller präsentierte stolz seine Riesensalzgurken, die er monatelang gehegt hatte. Sodabob schmiedete einen Plan. Er schlich zum Stand, stupste einen Sack mit Konfetti an, der über dem Fass voller Salzgurken hing. Bunte Schnipsel regneten auf die Prachtexemplare, sehr zur Belustigung der Zuschauer –und zum Entsetzen von Herrn Müller.
Die beiden gingen weiter zur Kuchentafel, die sie nun ins Visier nahmen. Dort thronte der Stolz der Siedlung: Frau Maiers Sachertorte, überzogen mit glänzender Schokoladenglasur, daneben ein perfekter Klecks Schlagobers.
"Die Glasur, Sodabob! Stell dir das vor!", flüsterte Monti aufgeregt.
Sie warteten, bis eine Gruppe Kinder an der Tafel vorbeirannte und die Erwachsenen ablenkte. Sodabob, der flinkere Kletterer, sprang auf den Tisch. Mit der Präzision eines Ninjas tauchte er seine Pfote tief ins Schlagobers und schleuderte einen Klecks direkt auf das makellose, weiße Hemd eines Mannes, der gerade über Gartengeräte plauderte.
Der Mann erstarrte. Seine Gesprächspartnerin ebenfalls. Dann blickte er an sich herab. Ein lautes "Ach du meine Güte!" hallte über den Platz.
Bevor jemand reagieren konnte, tauchte Monti neben der Torte auf, schob ein ordentliches Stück Schokoladenglasur beiseite und ließ es geschickt in seine Pfoten gleiten. Sie flüchteten unter einen der Tische. Die Schuld fiel schnell auf die Kinder, die mit Schokoladenresten im Gesicht erwischt wurden. Sodabob und Monti kicherten – auf ihre tierische Art –insgeheim.
Die beiden schmiedeten einen "schlimmen Streich". Sie wollten das Theaterstück der Jugendgruppe heimlich und wirkungsvoll sabotieren. Dieses Jahr hatte die Gruppe etwas Besonderes vorbereitet: ein Stück über die Geschichte der Siedlung, von ihrer Gründung bis heute.
Kurz vor Beginn des Stücks schlichen sich Sodabob und Monti hinter die provisorische Bühne. Die jungen Schauspieler waren nervös und ahnten nichts.
Monti, flink und geschickt, lockerte unbemerkt die Seile des Hauptvorhangs. Sodabob entdeckte die Kiste mit den Requisiten. Darin lag eine große, prächtige, aber künstliche Sonnenblume – das zentrale Symbol des Stücks. Er tauschte sie heimlich gegen eine echte Blume aus, die er kurz zuvor auf einem Komposthaufen gefunden hatte. Die Blume war verwelkt, stank erbärmlich und hatte ihre besten Tage längst hinter sich.
Das Stück begann, die Schauspieler spielten mit Hingabe. Als der Höhepunkt kam und die Hauptdarstellerin die" prachtvolle Sonnenblume" feierlich in die Höhe hob, zog ein beißender Gestank durch die ersten Reihen. Das Publikum rümpfte die Nasen, einige husteten, andere kicherten. Die Schauspielerin zögerte, hielt die Blume aber tapfer weiter hoch.
Dann kam der Moment, den Vorhang fallen zu lassen. Doch als der zuständige Jugendliche am Seil zog, rührte sich nichts. Der Vorhang blieb hängen. In der Aufregung versuchten die anderen, ihn von Hand zu schließen – vergeblich. Stattdessen verwandelten sie die Bühne in ein peinliches Durcheinander aus Stoff und umkippenden Kulissen.
Das Publikum brach in schallendes Gelächter aus. Die Jugendgruppe stand fassungslos da. Sodabob und Monti beobachteten das Chaos aus sicherer Entfernung und lachten Tränen. Ihr Streich war gelungen: Sie hatten das Theaterstück in ein unvergessliches Fiasko verwandelt.
Die Nacht verging, und die Streiche wurden gewagter.
Der eigentliche Magnet des Festes war die große Tanzfläche. Die Band "Old Memories" heizte mit Rock 'n' Roll und Boogie-Woogie ein, während die Gäste ausgelassen Petticoats und Lederjacken wirbeln ließen. Die Stimmung knisterte.
Abseits des Geschehens, hinter einem dichten Hortensienbusch, lauerten zwei Unruhestifter: Sodabob und Monti. Sie fanden das Tanzvergnügen unerträglich spießig und schmiedeten Pläne, um für "Action" zu sorgen.
"Sieh dir das an, Soda!", flüsterte Monti und deutete auf einen Eimer mit Gießwasser, der für die durstigen Blumen bereitstand. "Damit lässt sich doch was anstellen!"
Monti holte aus der Toilette des Schutzhauses eine Seife und schäumte sie im Eimer mit Wasser auf.
Sodabob, mit einem schelmischen Grinsen, hatte eine noch gewagtere Idee. Er schlich zur Seite der Bühne, wo die Kabel der Instrumente lose herumlagen. Unbemerkt von den Musikern, die gerade "Rock Around the Clock" spielten, löste er vorsichtig ein wichtiges Stromkabel und ersetzte es durch ein altes, präpariertes Verlängerungskabel, das er und Monti zuvor entdeckt hatten.
Währenddessen schob Monti den Eimer mit Wasser in die Nähe der Tanzfläche. Er wartete auf das vereinbarte Signal.
Die Musik erreichte ihren Höhepunkt, die Tänzer wirbelten ausgelassener denn je. Plötzlich, als Sodabob das Kabel aktivierte, dröhnte aus den Lautsprechern statt der E-Gitarrenklänge ein ohrenbetäubendes, konstantes "Miau-Quiek!" –schriller und durchdringender als jeder Rockabilly-Schrei.
Die Tänzer erstarrten, verwirrt und ratlos. In diesem Moment kippte Monti den Wassereimer um. Eine Welle schwappte über die glatte Tanzfläche. Die Boogie-Woogie-Tänzer, gebannt vom ohrenbetäubenden Tier lärm, bemerkten das Seifenwasser zu spät. Sie rutschten, stürzten, rappelten sich hoch, rutschten erneut und verwandelten die Tanzfläche in eine komische Schlitterpartie, die mehr an Eiskunstlauf als an Rock 'n' Roll erinnerte.
Das "Miau-Quiek!" hallte weiter, während die Musiker verzweifelt nach der Ursache des Chaos suchten. Die Menge, zunächst schockiert, brach bald in schallendes Gelächter aus. Das Blumenfest hatte seinen eigenen, unvergesslichen Höhepunkt erreicht.
Sodabob und Monti, sicher hinter ihrem Hortensienbusch versteckt, klatschten sich triumphierend ab. Ihr Streich war gelungen. Das Blumenfest hatte endlich den Rock 'n' Roll bekommen, den es ihrer Meinung nach verdiente – wenn auch auf eine völlig unerwartete Weise.
Zum Ende dieser chaotischen Veranstaltung sammelten die beiden unreifen Tiere alle leeren Bierdosen ein. Sie reihten sie auf einem Zaunpfahl auf, doch beim ersten Windstoß fielen sie klappernd um und erschreckten alle.
Anschließend genossen sie die Musik, die Gerüche und das wilde Durcheinander. Für eine Nacht regierten sie das Siedlungsfest. Die Menschen, vertieft in ihr eigenes Feiern, bemerkten die kleinen, listigen Augen nicht, die sie aus den Schatten heraus beobachteten.
Gegen drei Uhr morgens, als die Gäste müde wurden und die Lichterketten flackerten, zogen sich Sodabob und Monti zurück. Sie kletterten wieder auf das Dach des Gartenhäuschens, satt und zufrieden. Der Mond leuchtete hell über der Gartensiedlung Neugebäude.
"Eine gelungene Nacht, alter Freund", schnurrte Sodabob.
Monti leckte sich die letzten Schokoladenspuren von den Pfoten und nickte träge. „Allerdings. Die Menschen ahnen nicht, welche Gäste sie beherbergt haben. “
„Monti, erzähl mir zum Abschluss noch eine Gute-Nacht-Geschichte. Ich schlafe so gern bei deiner Stimme ein. “
„Na gut, aber nur eine. Die Müdigkeit packt mich auch schon. “
Monti setzte an und begann zu erzählen:
Es war einmal eine kleine, neugierige Hündin namens Maya. Ihr flauschiges, weißes Fell und die schwarzen Ohren machten sie unverwechselbar. Eines Nachts musste sie allein im geheimnisvollen Schloss Neugebäude in Simmering bleiben. Das Schloss, erbaut im 16. Jahrhundert, ragte mit hohen Mauern auf und barg weite, leere Hallen, die im Dunkeln knarrten.
Mayas Frauchen, Frau Hanna, arbeitete als Archäologin und leitete gerade Ausgrabungen im Schlossgarten. Weil sie dringend fortmusste, ließ sie Maya für eine Nacht dort zurück. "Sei brav, Maya", flüsterte sie, bevor sie die schwere Schlosstür hinter sich schloss. Maya blieb allein zurück. Doch Angst kannte sie nicht, sie war eine mutige kleine Hündin.
Als die Nacht hereinbrach, wurde es unheimlich. Schatten huschten über die Wände, und der Wind heulte durch die alten Gemäuer. Plötzlich hörte Maya ein Geräusch – ein leises, rhythmisches Ticken. Es kam aus der großen Halle, dem Spaziersaal. Neugierig, wie sie war, folgte sie dem Klang.
In der Mitte des riesigen Raumes, wo einst Feste gefeiert wurden, schwebte etwas in der Luft. Es war ein Geist – aber kein furchteinflößender! Er war durchsichtig, leuchtete sanft und trug eine lustige, altmodische Kleidung. Verwirrt blickte er sich um. Sein Name war Wuki, das Schlossgespenst.
Wuki war nicht böse, nur schrecklich einsam. "Hallo, kleines Fellknäuel", rief er mit einer glockenhellen, fröhlichen Stimme. "Ich bin Wuki. Was machst du hier?" Maya bellte zur Begrüßung und wedelte mit dem Schwanz. Wuki erzählte, dass er seit Jahrhunderten im Schloss spukte, doch niemand hatte je Zeit für ihn. Das Ticken, das Maya gehört hatte, stammte von seiner alten Taschenuhr. Sie half ihm, die Zeit zu vergessen.
Gemeinsam erkundeten Maya und Wuki die Nacht hindurch das Schloss. Wuki führte sie zu geheimen Ecken und zeigte ihr die Grotte im Keller. In den langen Gängen spielten sie Fangen. Wuki glitt mühelos durch Wände, was Maya zum Kichern brachte. Er war so glücklich, endlich jemanden zum Spielen zu haben, dass er fast seinen Geburtstag vergaß, den er jedes Jahr zu Faschingsbeginn feierte.
Als der Morgen dämmerte, suchte sich Maya eine warme Stelle im Sonnenlicht und kuschelte sich dort zusammen. Wuki verschwand in seinem Lieblingsspiegel. Frau Hanna fand später eine glückliche, aber erschöpfte Maya, die sie mit wedelndem Schwanz begrüßte.
Maya schlief den ganzen Tag. Als Frau Hanna sie fragte, ob sie Angst gehabt habe, lachte Maya innerlich. Angst? Nein. Sie hatte einen neuen Freund gefunden – den lustigen Geist Wuki mit der tickenden Taschenuhr. Und jede Nacht, wenn das Ticken begann, wusste Maya, dass sie nicht allein war.
Gute Nacht, kleiner Sodabob. Gute Nacht, Monti.
Sie kuschelten sich eng aneinander und legten sich hin. Die Musik verklang zu einem fernen Summen, die Lichter erloschen nach und nach. In den kleinen Gärten Simmerings schliefen der schwarze Kater und sein Marderfreund, zwei nächtliche Abenteurer, zufrieden ein – bereit für die nächste List, die Neugier und Dunkelheit ihnen schenken würden.
Schlusswort
„Wirklich gute Freunde sind die, die sich ganz genau kennen, und trotzdem stets zusammenhalten.“
Kurzgeschichte aus Simmering
Andreas Kmeth
(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht )