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Francis – Ein aufregender Gast

Ein Gerücht fegte wie eine Windböe durch die Gartensiedlung Neugebäude: Ein aufregender Gast soll
sich hier aufhalten. Es handelt sich um eine seltene dreifarbige Katze namens Luna. Ihr auffälliges
Kurzhaarfell zeigt weiße, rotbraune und schwarze Flecken. Kaum in Simmering angekommen,
begannen die umliegenden Katzen, über sie zu tratschen. Voller Neid und Misstrauen sprachen sie
abfällig über Luna. Man sagt, sie äußere sich spöttisch über alles Mögliche – und das auf überhebliche
Weise.
Was weiß man über dreifarbige Katzen? Eigentlich nur, dass es drei Mythen über sie gibt. Erstens:
Diese einzigartige Dreifarbigkeit tritt angeblich nur bei weiblichen Katzen auf. Zweitens: Im Mittelalter
verehrte man sie dem Aberglauben nach als Glücksbringer. Drittens: Man sagt, sie seien hitzköpfiger,
aufmüpfiger und divenhafter als andere Katzen. Dieses Gerücht über Luna erreichte auch Francis, den
selbstgefälligen Kater mit dem Tigerfell aus der Siedlung Neugebäude.
Francis nimmt sich oft sehr wichtig und betont seine Vorzüge überheblich. Doch alle, die ihn kennen,
wissen, wie neugierig er auf Neuigkeiten reagiert. Eifrig machte er sich sofort auf den Weg, um die
außergewöhnliche Katze zu treffen. Dabei begegnete er seinem langjährigen Freund Luki, einem
großen, etwas dickeren, aber sehr faulen britischen Kurzhaarkater, der meist im Schatten von Francis
läuft. Das liegt an seiner Einstellung zu seinem Körper. Francis kritisiert oft Lukis Essverhalten, da
dieser sich immer wieder beschwert, nicht mit ihm Schritt halten zu können. Das ist berechtigt, denn
Luki isst zu viel. Doch letztlich entscheidet er selbst, wie er mit seinem Körper umgeht. Als Francis ihn
sah, rief er ihm zu.
„Hallo Luki (mhrrmiau), wie geht's dir? Ich habe dich seit Tagen nicht gesehen. Ist alles in Ordnung?

„(Mhrrmiau) Mir geht's ausgezeichnet, Francis, danke der Nachfrage. Ich habe meine Verwandten
besucht, die hinter dem Friedhof im kleinen Waldstück leben. Wir mussten eine wichtige
Familienangelegenheit klären. Seit gestern bin ich zurück. Und wie erging es dir in den letzten Tagen?

„Hervorragend, Luki. Ich habe einige wundervolle romantische Stunden erlebt. “
„Das freut mich sehr für dich, Francis. Du bleibst der Kater, dem die Katzen nicht widerstehen können.
Verrätst du mir, wohin du an diesem schönen Vormittag so eilig unterwegs bist? “
„Ich folge meiner großen Neugier, Luki, und hoffe, dass meine Träume wahr werden. “
„Was meinst du damit, Francis? Ich verstehe nicht. “
„Luki, hast du noch nicht von dem unglaublichen Gerücht gehört, dass sich eine dreifarbige Katze als
Gast in Neugebäude aufhält? “
„Nein, Francis, das habe ich noch nicht gehört. Was sagt man über diese außergewöhnliche Katze? “
„Man sagt, sie sei wunderschön und klug. Doch leider hat sie auch die Allüren einer Diva. “
„Diva? Was meinst du damit? “
„Luki, du weißt nicht, was eine Diva ist? “
„Nein, Francis, erklär es mir. “
„Eine Diva liebt es, im Mittelpunkt zu stehen und alle Aufmerksamkeit zu bekommen. Aus ihrer Sicht
kann es nur eine Diva geben. “
„Oh je, das klingt nach großem Ärger. “
„Da bin ich anderer Meinung, Luki. Ich finde diese Katze vielleicht sogar sehr interessant. “
„Oh nein, Francis, lass es lieber. Diese Katze ist dir wahrscheinlich zu anspruchsvoll. Auch wenn man
dich Casanova aus Neugebäude nennt, hat deine Intelligenz nichts mit deiner Attraktivität zu tun. Wir
wissen alle, dass du der schönste Kater in der Gegend bist. Doch das heißt nicht, dass du auch der
klügste bist. “
„Danke, Luki. Du hältst mich also für dumm? “
„Nein, so meinte ich es nicht. “ Aber ich glaube, eine Diva aus der Stadt interessiert sich nicht für einen
Kater von hier. Wir leben wie auf dem Land, Francis. Sie hält uns wohl für ungebildet und unkultiviert.
„Genau, Luki, und das will ich zu meinem Vorteil nutzen. “ Du weißt ja, ich liebe Überraschungen.
„Ich ahnte schon, dass du so etwas sagen würdest. “ Na, das kann ja heiter werden. Francis, bitte geh
langsamer, du bist wie immer zu schnell.
„Dann streng dich an und beeil dich, du fauler Kater. “ Ich sage es dir immer, Luki: Friss weniger, dann
kannst du mir leichter folgen. Jetzt mach Tempo, ich kann es kaum erwarten, diese Katze
kennenzulernen.
Sie eilten beide zum Ende der Siedlung, wo der Naturlehrpfad, das Schloss und die Siedlung
aufeinander treffen. Genauer gesagt, am unteren Ende der Reihe vier. Den letzten Garten dieser Reihe
besucht Luna für eine Weile. Als sie den Garten erreichten, staunten sie nicht schlecht.
„Schau nur, Francis, wie viele Kater sich hier versammelt haben. “
„Ja, Luki, ich sehe es und bin ziemlich überrascht. “ Vor allem, weil kein einziges Kätzchen dabei ist.
Ihr Neid auf die dreifarbige Katze muss enorm sein. Trotzdem hätte ich nie mit so großem Interesse
von so vielen Katern gerechnet. Und dann sind sie auch noch alle vor mir hier – das ärgert mich
gewaltig. (Brrmiau.)
„Tja, (Mhrrmiau) du kannst eben nicht immer der Erste sein. Siehst du von hier aus die geheimnisvolle
Katze, Francis? “
„Ja, ich sehe sie. Sie sitzt ziemlich weit hinten im Garten, auf der Holzterrasse. “ Es wirkt seltsam: Alle
hören ihr aufmerksam zu, als würde sie eine spannende Geschichte erzählen. Man sieht ihr an, wie
sehr sie es genießt, im Mittelpunkt zu stehen. Komm, Luki, lass uns näher herangehen. Ich will genau
hören, was sie zu sagen hat.
Beide drängten sich dicht an sie heran. Etwa einen Meter entfernt ergatterten sie noch einen Platz –
allerdings nur, weil sie ihn sich durch Schieben und Stoßen unfair verschafft hatten. Die anderen Kater
waren darüber natürlich wenig erfreut (briuw, brrhmiau). Doch sobald sie Francis erkannten,
verstummte ihr Unmut. Kein Murren, kein Knurren – ihr Respekt vor Francis war zu groß. Luna
bemerkte das alles, doch sie ignorierte es. Nicht einmal eines Blickes würdigte sie die Szene. Nach
kurzer Zeit sagte Luki, sichtlich überrascht:
„Francis, ich glaube, unser Auftritt vorhin war alles andere als vorteilhaft. “
„Warum denkst du das, Luki? “
„Na ja, wir sitzen direkt vor ihr, aber sie hat uns nicht ein einziges Mal angesehen. Mit allen anderen
hier spricht sie über Blickkontakt, nur mit uns nicht. Ich glaube, sie mag uns einfach nicht. “
„Unsinn. Ich denke, sie hat uns noch gar nicht bemerkt. Hätte sie uns wahrgenommen, könnte sie ihre
Augen nicht von mir lassen. “
„Natürlich, Francis. Genau deshalb habe ich vorhin gesagt, Klugheit hat nichts mit Schönheit zu tun. “
„Luki, was redest du da für einen Quatsch? Warte, bis sie mit ihrer Geschichte fertig ist. Danach stelle
ich uns vor. “
Kaum hatte Luna ihre Geschichte beendet, sprang Francis vor ihre Pfoten.
„Hallo, meine Liebe (mhrrmiau), ich bin Francis, die Tigerkatze aus Neugebäude. Man nennt mich
auch den Charmeur aus Simmering (mhrrmiau). Willkommen in unserer schönen Gartensiedlung. “
„Danke für die freundliche Begrüßung. Gut zu wissen, dass Sie ein Charmeur sind. Doch wer ist der
fesche Kater an Ihrer linken Seite? “
„Ach, das ist nur Luki, ein eher unauffälliger Kater aus der Gegend. “
„Luki, ein netter Name (mhrrmiau). Obwohl Sie unauffällig wirken, sehen Sie bezaubernd aus. Mein
lieber Luki, Sie müssen sich nicht hinter einem eingebildeten Kater verstecken. Ihr ehrlicher
Gesichtsausdruck ist viel zu schön, wenn Sie mich so zuckersüß ansehen. “
„Oh, danke (mhrr, mhrrmiau), Sie sind sehr freundlich zu mir, und eine wunderschöne Katze noch
dazu. “ Ich hörte, man nennt Sie Luna, stimmt das?
„Ja, das ist richtig, so heiße ich. “
„Es tut mir leid, Luna, ich möchte nicht aufdringlich wirken. “ Doch ich kann kaum den Blick von
Ihnen abwenden. Ihre Schönheit lässt sich nicht in Worte fassen.
„Ach, Luki, Sie müssen sich nicht entschuldigen. So geht es fast jedem, der mich zum ersten Mal sieht.
“ Glauben Sie mir, ich komme gut damit zurecht. Ich weiß genau, wie schön ich mit meinem
dreifarbigen Fell aussehe.
„Liebe Luna, darf ein unauffälliger Kater wie ich Ihnen die Umgebung zeigen? So bekommen Sie einen
besseren Eindruck von unserer reizvollen Gegend. Nicht jeder Kater hier ist ein Möchtegern-Don-Juan
wie mein Freund Francis. “
„Ja, gerne lasse ich mir die Umgebung von Ihnen zeigen. Aber nur, wenn wir uns duzen. “
„Das ist nett von dir, dass du mir das Du-Wort anbietest (mhrrmiau). Also, Luna, lass uns loslegen.
Wir haben einen langen Weg vor uns. “
„Luki, mich einfach stehen zu lassen, als wäre ich nicht da, tut weh. Ein echter Freund macht das nicht.
Das ist nicht in Ordnung von dir (brrmiau). “
„Doch, lieber Francis, das ist es. Dein Benehmen mir gegenüber ist unmöglich geworden. Es entspricht
nicht meinen Erwartungen an einen Freund. “
„Ich bitte dich, Luki, sei vernünftig. Deine Vorwürfe sind übertrieben und lächerlich. Ich gebe zu,
meine Wortwahl ist oft unpassend, aber böse Absichten stecken nicht dahinter. “
„Na gut, Francis, dann lassen wir deine unklugen Bemerkungen auf sich beruhen – vorausgesetzt, du
meinst es ehrlich. Trotzdem möchte ich Luna lieber allein die Gegend zeigen. Es sei denn, du hast
etwas dagegen. “
„Einverstanden, Luki, vorausgesetzt, deine Begleitung ist damit einverstanden. “
„Ja, das bin ich, Francis. Lassen Sie uns bitte allein. Ich brauche keinen aufdringlichen Kater wie Sie
an meiner Seite. Sie tun meinem Gemüt nicht gut. Sie sind und bleiben ein Papagallo, der sich aufspielt,
weil er mehr sein will, als er ist. “
Tief enttäuscht und mit gesenktem Kopf ging Francis von den beiden weg. Ohne sich umzudrehen, lief
er direkt nach Hause. Lunas Worte ließen ihm die ganze Nacht keine Ruhe. Ihr Verhalten ihm
gegenüber beschäftigte ihn unaufhörlich. Immer wieder kreisten seine Gedanken um die selben
Fragen.
„(Mou, wuaumiau) Bin ich etwa nicht mehr der unwiderstehliche Kater aus Simmering? Habe ich
meine Anziehungskraft verloren? Ich strahle doch einen außergewöhnlichen Charme aus, der alle
Katzen verzaubert hat. Mein Lebensmotto war immer: Wer charmant ist, dem liegt die Welt zu Füßen.
Warum nur ignoriert Luna mich? Warum behandelt sie mich, als wäre ich nicht gut genug für sie?
Diese überhebliche Katze mit ihrem herablassenden Gehabe treibt mich in den Wahnsinn. Ich werde
ihr zeigen, was für ein hinreißender, atemberaubender Kater ich bin. Ich muss Klarheit schaffen und
alles mit ihr klären – von Angesicht zu Angesicht. Am besten gleich morgen, noch vor Sonnenaufgang.

Kaum hatte der Tag die Nacht verdrängt, suchte Francis nach Luna. Übermüdet, aber entschlossen,
lief er in den Garten, wo sie sich aufhielt. Er sprang über die Mauer und rief noch in der Luft: "Luna,
Luna, wo bist du?" Mehrmals rief er, doch sie antwortete nicht. Ohne Zögern beschloss er, Luki in
dessen Garten aufzusuchen. Auch dort fand er niemanden vor. Er durchkämmte die ganze Siedlung,
doch beide blieben verschwunden. Besorgnis ergriff ihn.
„Verdammt, ich mache mir ernsthaft Sorgen. “ Hoffentlich ist den beiden nichts passiert. Ich muss
weitersuchen, aber wo? Am besten gleich drüben am Friedhof, der direkt an der Siedlung liegt.
Am Friedhofstor traf er auf Jerry, eine schwarze Waldkatze. Jerry lebt seit Jahren hier. Wenn jemand
die beiden gesehen hat, dann er. Francis begrüßte ihn.
„Hallo Jerry, wie geht’s? “
„Sehr gut, Francis, besser könnte es nicht sein. Und bei dir? Ich habe dich lange nicht mehr hier
gesehen. “
„Ja, ich weiß, mein letzter Besuch hier liegt schon eine Weile zurück. Im Moment geht es mir wirklich
nicht gut. Ich habe sogar das Gefühl, es könnte schlimmer werden. Ich suche verzweifelt nach Luki,
der mit einer Katze unterwegs ist. Sie hält sich gerade in Neugebäude auf und wollte sich gestern von
ihm die Gegend zeigen lassen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Seit heute Morgen
durchkämme ich die Gartensiedlung, rauf und runter, ohne Erfolg. Jetzt wollte ich sie auf dem Friedhof
suchen. Und da wir uns gerade treffen, frage ich dich: Hast du sie zufällig gesehen? “
„Nein, tut mir leid, Francis. “ Luki ist mir seit Tagen nicht mehr begegnet.
„Danke, Jerry, für die Auskunft. “ Trotzdem werde ich den Friedhof nach ihnen absuchen.
„Ja, mach das, und viel Glück dabei. “ Ich halte ebenfalls Ausschau. Wenn ich sie treffe, sage ich ihnen,
dass du sie suchst.
„Das ist nett von dir, Jerry. Danke für deine Hilfe. “
Francis durchkämmte stundenlang den Friedhof. Doch am Ende stand er wieder fassungslos da.
„Was soll ich tun, wie weiter vorgehen? “ Wo noch suchen, wo könnten sie sein? Ich muss mich
konzentrieren und kurz nachdenken. Wohin würde Luki sie führen? Vermutlich zum Alten Schloss
Neugebäude, das gegenüber der Gartensiedlung liegt. Ich muss mich beeilen. Bald verdrängt die
Dunkelheit das Tageslicht, dann wird es noch schwieriger, sie zu finden. Vielleicht sind sie in
Schwierigkeiten oder sogar in Gefahr.
Francis rannte so schnell er konnte zum benachbarten Schloss. Er suchte gründlich, ließ keinen Winkel
und keine Nische aus. Mehrmals durchkämmte er das Anwesen. Doch nach langer, erfolgloser Suche
musste er erschöpft aufgeben. Kraftlos machte er sich auf den Heimweg und murmelte leise in seinen
Bart.
„Ich kann nicht mehr, die Erschöpfung ist zu stark. “ Ich muss nach Hause, um mich auszuruhen. Nur
so gewinne ich Kraft für morgen. Dann suche ich weiter, bis ich sie finde. Ich spüre, dass etwas nicht
stimmt. Sie haben vielleicht große Angst und brauchen dringend meine Hilfe. Aufgeben kommt für
mich nicht infrage.
Mit diesen Worten legte sich Francis erschöpft schlafen. Als es am nächsten Morgen hell wurde, hörte
er plötzlich eine Stimme, die mehrmals seinen Namen rief.
„Francis, Francis, wach auf, du Faulpelz, wach auf! “
Zuerst hielt er es für einen Traum. Doch als er langsam zu sich kam und die Augen öffnete, stand Luki
plötzlich vor ihm –mitten im Garten. Überrascht fragte er:
„Luki, was machst du hier? “
„Francis, ich habe Jerry getroffen. Er erzählte mir, dass du mich gestern den ganzen Tag gesucht hast.
Du sollst dir sogar große Sorgen gemacht haben. Stimmt das (mhrrmiau)? “
„Ja, das stimmt (mhrrmiau). Aber ich habe nicht nur dich gesucht, sondern auch Luna. Ich dachte,
euch beiden sei etwas passiert, weil ich euch seit vorgestern nicht mehr finden konnte. Wo ist Luna
überhaupt? “
„Ich glaube, sie ist in ihrem Garten. Aber genau weiß ich es nicht. “
„Wie bitte? Du weißt es nicht genau? Ich dachte, du warst die ganze Zeit bei ihr! “
„Ja, aber nur solange ich ihr die Gegend zeigte. “ Danach lehnte sie höflich ab. Sie wollte den Abend
lieber allein verbringen. Das waren ihre letzten Worte an mich, dann trennten sich unsere Wege.
Enttäuscht ging ich nach Hause, denn meine Erwartungen waren wieder einmal zu groß (miau, gurr,
miau). Die große Liebe werde ich wohl nie finden. Ich muss mir eingestehen, dass ich nicht so ein
verführerischer Kater bin wie du.
„Luki, sei nicht traurig. Du hast Charaktereigenschaften, auf die du stolz sein kannst. “ Du bist ehrlich,
fürsorglich, hilfsbereit, großzügig, klug. All das bist du, Luki. Mit so vielen positiven Eigenschaften
kenne ich keinen Kater in unserer Gegend, nur dich.
„Danke, Francis (mhrrmiau). Deine anerkennenden Worte geben mir das Gefühl, gebraucht zu
werden.
„Genau, Luki. Jetzt braucht uns Luna. Ich spüre instinktiv, dass sie in Schwierigkeiten steckt. “
Vielleicht täusche ich mich, und sie liegt bequem in ihrem Garten. Lass uns nachsehen, ob sie zu Hause
ist.
Sie rannten so schnell sie konnten zu Lunas Garten. Dort angekommen, stellten sie fest, dass Luna
nicht da war. Aufgeregt rief Luki zu Francis:
„Keine Spur von Luna. Was nun, Francis? “
„Gib mir einen Moment zum Nachdenken, Luki. Wo habt ihr euch vorgestern getrennt? “
„Hier, Francis, genau hier vor ihrem Garten. “
„Als du ihr die Gegend gezeigt hast, Luki, hat sie da etwas besonders angezogen? “ Vielleicht ein Ort
oder ein Gebäude? Überlege gut, bevor du antwortest.
„Natürlich, Francis. Mir ist der Ernst der Lage inzwischen klar. Ich erinnere mich, dass sie das Schloss
sehr faszinierend fand. “
„Interessant. Meine Suche endete gestern Abend im Schloss. Luki, das ist für mich keine Absurdität
mehr, sondern ein seltsames Phänomen. Ich habe es gestern gespürt, als ich vor Erschöpfung aufgeben
musste. Sie ist irgendwo im Schloss, in großer Gefahr – ich fühle es. Wir müssen sofort dorthin, um
ihr zu helfen. “
Kaum angekommen im alten, großen Gebäude, trennten sie sich. Luki durchsuchte die Ostseite,
Francis die Südseite. Sie verabredeten, sich nach der Suche im Schlosshof zu treffen, um das weitere
Vorgehen zu besprechen, falls sie Luna nicht finden würden. Nach einiger Zeit erreichte Francis als
Erster den Treffpunkt, jedoch ohne Erfolg. Er hoffte, Luki hätte mehr Glück. Doch Luki erschien
nicht. Bald wurde Francis klar, dass etwas schiefgelaufen sein musste. Er begann sofort, im östlichen
Teil des Schlosses nach Luki zu suchen, rief hektisch und aufgewühlt in jeden Raum.
„Luna, Luki, wo seid ihr? (Brrmiau!) “ Ruft mir, zeigt mir, dass ihr da seid!
Doch nichts regte sich, kein Laut drang an sein Ohr. Trotzdem spürte er, dass sie in der Nähe sein
mussten. Als er den letzten Raum im untersten Teil des östlichen Bereichs betrat, hörte er plötzlich
aus der hintersten Ecke eine schwache, kaum hörbare Stimme:
„(Gurrmiau) Hilfe, wir sind hier! Francis, bitte hilf uns! (Iiauauauauauawawaw). “
„Ich höre dich, Luna. Bleib ruhig, ich komme! “
Vorsichtig schlich er auf seinen Pfoten Lunas schwacher Stimme entgegen. Je näher er dem hintersten
Teil des Raumes kam, desto deutlicher erkannte er das Ausmaß des Unglücks. Luna war durch den
morschen, verfaulten Holzfußboden in den Keller gestürzt. Trümmerteile hatten sie eingeklemmt, und
sie konnte sich nicht mehr selbst befreien. Nur einen Meter von ihr entfernt lag Luki regungslos am
Boden. Aufgeregt berichtete Luna Francis, dass Luki bei dem Versuch, sie zu retten, ebenfalls
abgestürzt war – und sich seitdem nicht mehr rührte.
„Luna (mhrrmiau), bitte, überanstrenge dich nicht. Bleib einfach ruhig liegen. “ Ich denke nach, gib
mir ein paar Sekunden, um eine Idee zu finden.
Doch Francis fand keine schnelle Lösung, um Luna und Luki zu retten. Ohne zu zögern sprang er zu
ihnen hinunter. Mit aller Kraft begann er, die Holzlatten von Luna zu ziehen. Kaum war sie befreit,
atmete sie wieder leichter.
„Danke, Francis. Endlich kann ich wieder richtig durchatmen (miau, mhrrmiau). “
„Dem Himmel sei Dank (brrmiau, mhrrmiau), dass ich euch gefunden habe, Luna. “ Jetzt muss ich
mich um Luki kümmern. Aber er scheint ohnmächtig zu sein. Irgendetwas muss ich tun, um ihn wieder
wach zubekommen –vorausgesetzt, es geht dir körperlich wieder besser, Luna.
„Ja, Francis, ich sehe keine schlimmen Verletzungen an mir. “ Nur leichte Schmerzen in der Brust
spüre ich noch. Mehr Sorgen bereitet mir mein großer Durst, der mich schon eine Weile quält. Seit
zwei Tagen habe ich nichts getrunken, mein Mund ist völlig ausgetrocknet. Doch kümmere dich bitte
um Luki. Das ist jetzt dringender.
„Du hast recht, Luna, er muss so schnell wie möglich aufwachen. “
Francis rüttelte vorsichtig an Luki, um ihn zu wecken. Doch Luki rührte sich nicht, er lag regungslos
da. Da entdeckte Francis in einer dunklen Ecke des Kellers ein Holzregal mit einer verstaubten
Holzkiste. Obwohl die Kiste hohl und brüchig war, freute er sich über ihren Inhalt: volle Weinflaschen.
Überglücklich rief er aus:
„Hurra und Hallelujah, (mhrrmiau) wir sind gerettet! Sieh nur, Luna, was ich gefunden habe:
ungeöffnete Weinflaschen. Wir werden nicht verdursten. “
Er zog eine Flasche aus der Kiste und öffnete sie, indem er den halb herausstehenden Korken mit den
Zähnen herauszog. Dann ging er zu Luki und goss ihm den Wein ins Gesicht.
„Francis, was machst du da? “
„Warte ab, Luna, gleich wacht er auf. “
Als der Wein Luki ins Gesicht lief, erwachte er. Erschrocken sprang er vom Liegen in die Höhe und
schrie Francis an.
„Bist du verrückt? Was fällt dir ein, mir Wein ins Gesicht zu schütten? “
„Beruhige dich, Luki, du warst ohnmächtig. Ich musste etwas tun, damit du aufwachst. “
„Er hat recht, Luki. Nur so bist du wieder zu dir gekommen. Sei ihm nicht böse, er wollte dich retten.

„Was ist passiert? Ich erinnere mich an nichts. Mein Kopf brummt vor Schmerzen. “
„Du wolltest Luna retten und bist abgestürzt. Du schlugst mit dem Kopf auf den harten Boden und
bliebst bewusstlos liegen. “
„Oh, Francis, mein alter Freund, tausend Dank für deine Hilfe. “
„Gern geschehen, Luki. “ Helfen ist für mich Ehrensache. Freunde sollten sich immer unterstützen,
egal wie brenzlig oder gefährlich die Lage ist. Ruh dich jetzt aus, du siehst erschöpft aus.
„Das mache ich, Francis. Denn das Schwindelgefühl, das ich verspüre, zwingt mich zum Hinlegen.“
„Gut, ich kümmere mich in der Zwischenzeit um Luna, bevor sie verdurstet. “
Francis nahm eine Weinflasche aus der Kiste, setzte sich zu Luna, pustete den Staub ab und öffnete
sie. Vorsichtig gab er ihr den Wein. Da wurde Luna unsicher.
„Warte, Francis, Katzen dürfen doch keinen Wein trinken. “
„Luna, trink bitte, sonst verdurstest du noch. “ Wenn Menschen Wein trinken können, dann schaffst
du das auch. Du bist nicht allein – ich trinke mit dir. Und mit etwas Glück geht es uns wie den meisten
Menschen: Je länger sie Wein trinken, desto ausgelassener werden sie. Zumindest habe ich das so
erlebt, als ich sie beobachtete. Sie erzählen sich lustige Geschichten, singen, tanzen und lachen dabei.
Und genau so, wie Francis es vorher beschrieben hatte, erging es ihnen dann auch. Als die Flasche halb
leer war, versetzte der Alkohol sie in eine heitere Ausgelassenheit. Stundenlang erzählten sie sich die
komischsten Erlebnisse ihres Lebens, lachten unaufhörlich und genossen die Nacht, bis sie in tiefster
Dunkelheit endete.
„Das waren herrlich amüsante Geschichten, Luna. (Mmmhhrrr. .. miau!) Mir laufen immer noch die
Tränen vor Lachen übers Gesicht. “ Noch ein paar davon, und ich kriege Bauchkrämpfe, die wohl nie
enden.
„Francis, wir müssen leiser sein. (Mmmhhrr. .. miau!) “ Luki ist zwar längst eingeschlafen, aber sein
Schlaf bleibt unruhig. Es war wohl alles ein bisschen zu viel für ihn. Doch jetzt zu dir, Francis: Ich
möchte dir danken. (Miau.) Du bist ein wunderbarer Kater – ein echter Held für mich. Es tut mir leid,
dass ich dich bei unserem ersten Treffen so schlecht behandelt habe. Deshalb bitte ich dich aufrichtig
um Verzeihung. Kannst du mir noch einmal vergeben? (Miau.)
„Ich vergebe dir, Luna. Grüble nicht länger darüber nach. “ Du kannst nicht anders, du bist eben eine
echte Diva. Zum Glück komme ich gut mit deinem Charakter klar.
„Ja, weil du genauso bist wie ich. “
„Vermutlich bin ich das auch. Wer weiß das schon. “
„Francis, ich muss morgen früh nach Hause. Begleite mich doch! Ich plane, durch Italien zu reisen.
Das könnte ein unglaubliches Erlebnis für uns werden. Stell dir vor, wir küssen uns am weißen Strand,
spüren den Wind auf der Haut und haben Meeressand im Fell. Gemeinsam betrachten wir einen tief
roten Sonnenuntergang in Jesolo. Das wäre für mich wahres Leben. Was meinst du, Francis? “
„Wow, Luna, damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin wirklich sprachlos. Dass du mich begleiten lassen
willst, überrascht mich umso mehr, da deine Abneigung gegen mich von Anfang an spürbar war. Ich
habe nicht bemerkt, dass du Gefühle für mich hast. “
„Heißt dein überraschter Blick etwa nein, Francis (brrmiau)? “
„Luna, oft hat mich mein Gefühl getäuscht. Ich glaubte, überall zu Hause zu sein. Im Lauf der Jahre
vergaß ich manches, doch den Ort, aus dem ich komme, vergesse ich nie. Auch wenn ich behaupte,
die Welt sei gerade groß genug für mich –tief in mir weiß ich: Ich bleibe immer in Simmering. “
Luna verschlug es die Sprache. Kein Wort kam über ihre Lippen. Mit so einer Antwort hatte sie nicht
gerechnet. Sichtlich enttäuscht und müde vom vielen Wein schlief sie neben ihm ein. Er aber streichelte
ihr weiches Fell die ganze Nacht hindurch und flüsterte ihr immer wieder ins Ohr.
„(mhrrmiau) Es tut mir leid, ich kann Simmering nicht verlassen. “ Ich frage mich ständig, warum ich
noch hier bin, doch zum Gehen fehlt mir der Mut.
Langsam verdrängte das Morgenlicht die Dunkelheit. Luki öffnete die Augen, kurz darauf erwachte
Luna. Francis begrüßte beide mit einem Lächeln.
„Morgen, ihr Schlafmützen, es ist Zeit, nach Hause zu gehen. “
„Ja, Luna, Francis hat recht. Wir müssen aufbrechen, bevor uns jemand vermisst. “
„Ich weiß, Luki, aber das bedeutet Abschied. Und das fällt mir schwer, denn ich habe euch sehr lieb
gewonnen. “
Gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg. Kaum erreichten sie den Garten, in dem Luna zu
Besuch war, brachen die Tränen hervor. Sie weinten unaufhörlich und strichen sich dabei mit den
Pfoten über die Köpfe. Schließlich verabschiedete sich Luki schwerfällig von Luna.
„Luna (mhrrmiau), ich halte es kurz: Alles Gute und eine angenehme Heimreise. “
„Danke, Luki (mhrrmiau). Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen. “
Luki rief noch nach Francis.
„Bis später, mein Freund. “
Dann drehte er sich um und verschwand im nächsten Garten.
„Tja, jetzt ist es so weit. Mein Besuch endet, lieber Francis (mhrrmiau). Du fehlst mir jetzt schon, doch
ich muss gehen. Danke für alles – ich werde dich nie vergessen. Arrivederci (mhrrrrrrmiau), mein
Retter, mein Held. “
„Luna, ich sage dir lieber Tschüss als Lebewohl oder Addio. Diese Worte schmerzen zu sehr. Tschüss
klingt für mich wie ein sanfter Abschiedsgruß, auch wenn der Abschied endgültig sein mag. Vielleicht
sehen wir uns nie wieder, doch die Zeit mit dir war aufregend und wunderschön.
Für mich bleibst du ein unvergesslicher Besuch – für immer (mhrrrrrrmiau).
Ciao, Luna. “
Schlusswort
Wahre Gastfreundschaft zeigt sich, indem man seinen Gästen das Beste von sich gibt. Mit etwas Glück
entsteht daraus eine lebenslange Freundschaft.
Kurzgeschichte aus Simmering
Andreas K.
(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht)

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