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Ein Hauch von Angst

Ich heiße Sam und lebe derzeit in Wien, einer Stadt voller Sehenswürdigkeiten, so schön, wie man es sich nur erträumen kann. In meinem Bezirk stehen ein altes Schloss, ein Naturlehrpfad und mehrere Friedhöfe, die Touristen gerne besuchen. Seit meiner Ankunft hat mich die Umgebung in ihren Bann gezogen. Nicht weit von diesen Sehenswürdigkeiten liegt meine kleine Wohnung. Die Fassade bröckelt, die großen Holzfenster sind undicht, und bei starkem Regen bilden sich Pfützen auf den Fensterbrettern. Doch der Ausblick ist atemberaubend: Er zeigt direkt auf die Schlossterrasse.
Es ist ein Genuss, den Sonnenuntergang von der Schlossterrasse aus zu betrachten. Der Blick fällt direkt auf den Naturlehrpfad, und dieser Anblick schenkt mir ein Gefühl von Geborgenheit. Im großen Hof des Schlosses finden oft Veranstaltungen statt, dazu reihen sich Stände mit Speisen aus aller Welt – idealer Ort, um Sommerabende zu verbringen. In dieser Zeit bin ich regelmäßig dort, suche mir einen Platz entlang der Schlossmauer, setze mich an einen Tisch und bestelle etwas zutrinken. Dabei beobachte ich die Menschen um mich herum, ihre Gesichter, ihre Mimik. Je länger ich hinschaue, desto düsterer wirken sie.

An einem schwülen Sommerabend verdichtete sich die feuchte Luft zu einem leichten Nebel. Das Licht der Laternen schimmerte matt hindurch und fiel auf meinen Tisch. Der Kellner trat heran, ich bestellte ein Glas Rotwein. Kaum war er gegangen, hefteten sich meine Augen wieder an die Gesichter der Menschen. Ich fiel in eine Art Traum, unfähig, meinen Blick zu lösen. Ich versuchte, die Augen zu senken, doch es gelang nicht. Stimmen drangen an mein Ohr, doch ich verstand kein Wort. Gerade, als ich glaubte, sie zu begreifen, stand der Kellner plötzlich vor mir.
„Ihr Glas Rotwein, bitte! “
Ich sagte knapp „Danke“. Doch das Gefühl, wie in einem Traum zu sein, verschwand. Langsam leerte ich mein Weinglas, versuchte erneut, in Trance zu geraten, und starrte konzentriert in die Menge. Doch das Gefühl kehrte nicht zurück. Also beschloss ich, die Veranstaltung zu verlassen. „Kellner, zahlen bitte“, rief ich laut und machte mich auf den Heimweg.

Unterwegs spürte ich ein mulmiges Gefühl im Bauch, während mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Meine Schritte wurden schneller und größer. Zu Hause angekommen, schloss ich die Tür ab, wusch mich und sprang ins Bett.
Am nächsten Morgen kreiste nur eine Frage in meinem Kopf: Was ist gestern mit mir geschehen? Dieser Gedanke ließ mich den ganzen Tag nicht los. Selbst die harte Arbeit auf der Baustelle lenkte mich nicht ab. Also entschied ich, den Abend wieder dort zu verbringen. Die Neugier überwog die Vernunft, es ruhen zu lassen. Kaum dämmerte es, machte ich mich auf den Weg. Dort fiel mir wieder sofort der leicht feuchte Nebel im Laternenlicht auf, der an das düstere London alter Geschichten erinnerte. Mein Blick wanderte zu dem Tisch, an dem ich gestern saß.

„Ja, er ist noch frei“, murmelte ich und setzte mich. Kaum hatte ich Platz genommen, kam der Kellner.

„Was darf es sein, mein Herr? “, fragte er.

„Ein Glas Rotwein, bitte. “
Der Kellner wandte sich dem Nachbartisch zu, und mein starrer Blick haftete sofort an den Gesichtern der Leute. Ich spürte, dass ich wieder in dieser Art Traum gefangen war. Dieses Gefühl zog mich in eine besondere Bewusstseinsebene. Mein Körper blieb fast reglos, doch im Trancezustand erlebte ich lebhafte Szenen. Meine Augen entglitten mir, die Hände begannen leicht zu zittern, und eine eisige Kälte kroch meinen Rücken hinauf. Ich glaubte sogar, einen Hauch im Nacken zu spüren. Dazu kam das unheimliche Gefühl, nicht allein an diesem Tisch zu sitzen. In diesem Moment brachte der Kellner meine Bestellung, und ich kehrte in die Wirklichkeit zurück.
„Ist alles in Ordnung, mein Herr? “
„Ja“, seufzte ich.
„Sie sehen aber sehr blass aus. “
„Ja, es ist wirklich alles in Ordnung! “, entgegnete ich scharf, und er ging langsam weiter.
Erst jetzt sah ich in die Menge und spürte, dass auch sie mich beobachteten. Ein beunruhigendes Gefühl durchfuhr mich und machte mich nervös. Langsam senkte ich den Kopf zum Weinglas und nahm einen Schluck. Dann atmete ich tief durch, um mich zu beruhigen, trank den Wein aus, zahlte und machte mich auf den Heimweg. Doch wieder überkam mich dieses Gefühl, als lege sich die Kälte wie eine zweite Haut auf meinen Körper. Meine Schritte wurden schneller. Trotz des Tempos spürte ich einen feuchten, eisigen Hauch in meinem Nacken.

„Lauf“, sagte ich mir, „so schnell du kannst. “ Und ich rannte, ohne anzuhalten, bis ich endlich meine Haustür erreichte.

Da spürte ich, dass die Kälte auf meinem Körper verschwunden war. Trotzdem zog ich sofort den Schlüssel heraus, öffnete die Tür, trat ein und schlug sie mit einem Knall zu. Ich schaute durch den Türspion, konnte aber nichts erkennen. Die Dunkelheit erschwerte die Sicht, im Flur war nichts Auffälliges zu hören oder zu sehen. Allmählich legte sich meine Aufregung, und ich ging zur Ruhe.

Gegen 8 Uhr weckte mich die Sonne, die durchs Fenster ins Schlafzimmer fiel. Ich richtete mich mühsam auf, stand auf, ging in die Küche und bereitete mein Frühstück: Kaffee, Eier und Speck. Während ich am Küchentisch saß und aß, dachte ich über den gestrigen Abend nach. Ich ließ alles noch einmal Revue passieren und kam zu dem Schluss: Im Schlosshof geht es nicht mit rechten Dingen zu. Eine seltsame Macht scheint dort zu wirken. Diese mysteriösen Vorfälle können kein Zufall sein. Sie bleiben mir rätselhaft und unerklärlich.
Also beschloss ich, meiner Nachbarin Rosalie, die nur eine Tür weiter wohnt und eine enge Freundin ist, von den unheimlichen Vorfällen zu erzählen. Ich wollte sie bitten, mich am Abend dorthin zu begleiten. Mit ihr an meiner Seite würde ich mich deutlich sicherer fühlen. Zwar trieb mich die Neugier, doch der Respekt vor dem, was mich erwartete, war ebenso groß. Deshalb wollte ich das Schloss nicht allein betreten. Die Frage war nur, ob sie Zeit für mich hatte.

Den ganzen Tag versuchte ich, sie zu erreichen. Ich klopfte immer wieder an ihre Tür, bis meine Finger schmerzten. Doch sie blieb unauffindbar. Schließlich schrieb ich ihr eine Nachricht und bat sie, sich so schnell wie möglich bei mir zu melden. Aber eine Antwort blieb aus. Was auch immer sie vorhatte – für mich war darin kein Platz.
Die Dämmerung brach herein, und Unruhe trieb mich ins Schloss. Auf halbem Weg schlug mein Herz schneller, meine Hände zitterten und schwitzten, kalter Schweiß trat auf die Stirn. Ich atmete tief ein und aus, um mich zu beruhigen. Das half kurz, dann sah ich den Schlosshof im Nebel. Die Laternen schimmerten kaum hindurch, ein düsterer Anblick.

Im Schloss suchte ich den Tisch, an dem ich die letzten Tage gesessen hatte. Er war frei, kaum Gäste waren da. Ich setzte mich mit dem Rücken zur Wand. Bald entdeckte mich der Kellner.

„Wie gestern der Herr? “, rief er.

„Ja, bitte“, antwortete ich.
Mit wachem Blick sah ich mich langsam um. Ein wenig nervös wurde ich, als der Kellner kam und mein Glas Wein auf den Tisch stellte. Er sah diesmal irgendwie seltsam aus, doch möglich, dass ich es mir nur einbildete.
„Bitte sehr, der Herr. “
„Danke sehr“, erwiderte ich rasch.
Er wandte sich ab und ging zum nächsten Tisch. Innerlich aufgeregt, ließ ich meinen Blick langsam von links nach rechts schweifen. Die Gästezahl wuchs, und bald war kein Platz mehr frei, außer an meinem Tisch. Genau in diesem Moment verfiel ich wieder in eine Art Trance, doch diesmal fühlte es sich anders an als zuvor. Plötzlich trat ein älterer Herr auf mich zu, mit langem, weiß-grauem Haar, einem wild wuchernden Vollbart und leicht schmutziger Kleidung.
„Ist dieser Platz noch frei? “, fragte er.
Seine Stimme ließ mich kurz aufschrecken; sie klang unheimlich tief.
„Ja, bitte setzen Sie sich. “
Mit einem knappen Nicken ließ er sich auf den leeren Stuhl sinken. Kaum saß er, sah ich ihm direkt ins Gesicht. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, denn seine Augen wirkten unheimlich – ein grauer Schleier lag fast vollständig über ihnen. Hastig senkte ich den Kopf und starrte ins Weinglas, in der Hoffnung, einem Gespräch mit ihm zu entgehen.
„Mein Name ist Fred. Und Ihrer? “, fragte der Mann.

 

Und schon war dies auch wieder das Ende meines Hoffens, trotzdem antwortete ich höflich:

 

„Ich heiße Sam“, sagte ich mit zitternder Stimme und fragte, ob er oft hier sei.
 

„Ja, ich bin jeden Abend hier und sitze an diesem Tisch. “
 

„Seltsam. Ich möchte nicht unhöflich klingen, aber ich saß die letzten Tage immer hier doch sie sah ich nicht. “

„Weil Sie nicht genau hingesehen haben, Sam. Sonst wäre ich Ihnen aufgefallen“, sagte er mit fester, lauter Stimme.„ Bitte, nehmen Sie das ernst, was ich Ihnen jetzt sage. Sie sind in eine gefährliche Welt geraten. Hier müssen Sie wachsam sein, sonst gibt es kein Entkommen. “

„Ich verstehe nicht. Was meinen Sie? “

„Sam, hören Sie gut zu. Läuft Ihnen ein kalter Schauer über den Rücken? Spüren Sie, wie die Angst Ihnen die Haare aufstellt? Kommt Ihnen alles seltsam vor? Haben Sie das Gefühl, wie in Trance zu sein? “

„Ja, genau so ist es. Aber woher wissen Sie das? Wo bin ich, alter Mann? “

„Sie sind in einer Zwischenwelt. Hier verweilen die Seelen der Toten, die noch nicht weiterziehen dürfen. Doch sie sehnen sich danach, diesen Ort zu verlassen. Ihre Anspannung ist greifbar, die Wut steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie können Fremden gegenüber gefährlich werden. Ich würde sogar sagen, sie töten jeden Eindringling, den sie entdecken. Übrigens, was wir ‚Seele‘ nenne, nennt ihr‚ Geister‘. “
Erschrocken starrte ich ihn an.

 

„Was sind Sie? “, fragte ich.
 

„Ich gehöre zu ihnen, doch ich will und kann nicht so böse sein wie die anderen. “ Nur wenige von uns Seelen würden nie jemandem etwas antun. Leider sind wir in der Minderheit und müssen deshalb wachsam bleiben. Wenn man uns entdeckt, ist es unser Ende.
 

In diesem Moment zitterte alles an mir vor Angst. Kann ich ihm trauen? Wer ist dieser Kerl? Er jagt mir eine Heidenangst ein. Sollte ich nicht besser an einen anderen Tisch gehen?
„Sam, zeigen Sie keine Angst, sonst werden die Geister auf Sie aufmerksam. Glauben Sie mir, das wollen Sie nicht erleben! “, rief Fred.

 

„Was passiert dann, Fred? “ Sie ziehen doch mit ihrem Geschrei alle Blicke auf uns.
 

„Was geschieht, sie schnüren Ihnen die Luft ab Sam, saugen Ihr Blut aus, rauben Ihre Lebensenergie, bis Sie sich nicht mehr rühren können und Ihre Seele für immer in der Zwischenwelt gefangen bleibt. “
 

„Nein, was soll ich tun? Bitte, Fred, helfen Sie mir! Ich will nicht sterben! Oh Gott, ich spüre, dass sie mich längst bemerkt haben. “
 

Alle starrten mich an. In ihren Gesichtern las ich nur Böses. Nervös erhob ich mich.
 

„Setzen Sie sich“, sagte Fred, „und hören Sie zu. Sie haben nur einen Versuch, Magret. “
 

„Wer? “, fragte ich nervös.
 

„Magret, die Seele des Lichts, zieht gleich hier vorbei, ohne anzuhalten. Sam, das ist Ihre einzige Chance. Nutzen Sie sie, sonst sind Sie verloren.“

„Was? “, fragte ich erstaunt. „Was bedeutet das, Fred? Ich verstehe nicht. “

„Sam, wenn Magret vorbeizieht und auf Höhe unseres Tisches ist, springen Sie auf und laufen Sie so schnell Sie können in ihr Licht. Verlassen Sie dann mit ihr die Zwischenwelt. Das Licht schützt Sie vor den bösen Seelen. Verlassen Sie es auf keinen Fall. Die Seelen können das Licht nicht betreten; es würde sie vernichten, wenn sie zu lange damit in Kontakt sind. “

„Aber Fred, die Geister oder Seelen….“

 

„Es geht los! Halten Sie sich bereit, man sieht Magrets Licht schon! “, rief Fred mit donnernder Stimme und fixierte mich mit seinen unheimlich großen Augen.
 

„Und Sam, die bösen Seelen werden alles tun, um Sie hier festzuhalten. “
 

Von diesem Moment an lauschte ich so angespannt Freds Worten, dass ich mein rasendes Herz nicht mehr wahrnahm.
 

„Los! “, brüllte Fred. „Laufen Sie und kämpfen Sie, wenn Sie leben wollen! “

Ich rannte los, so schnell ich konnte, ohne zurückzublicken, ohne nach rechts oder links zu schauen, bis ich Magrets Licht erreichte. Dort spürte ich die kalten Hände der Geister, deren scharfe Fingerspitzen mich aus dem Licht zerren wollten. Sie kratzten meinen Rücken blutig, ihre Krallen bohrten sich tief hinein. Ich schlug mit aller Kraft auf sie ein und trat mit den Füßen nach ihnen. „Hilfe! Hilfe! “, schrie ich voller Todesangst.
Ich trat weiter, schrie weiter, trat immer wieder mit den Füßen, so heftig, dass meine Zehen schmerzten. Dabei spürte ich, wie ich gegen etwas Hartes trat, so hart wie eine Mauer.

In diesem Moment wachte ich auf, schweißgebadet, nach Luft schnappend und mit heftigen Schmerzen in den Füßen. Benommen und mit weit aufgerissenen Augen saß ich in meinem Bett, das an der Schlafzimmerwand stand. Die ganze Zeit hatte ich mit den Füßen dagegen getreten. „Ein Traum, ein Albtraum! “, rief ich aus, „ah, diese Schmerzen! “

Sofort tastete ich meinen Rücken ab, dann die Erleichterung: kein Blut. Doch der Traum wirkte so lebendig, so real. Nach einigen Minuten beruhigte ich mich langsam, auch die ziehenden Schmerzen ließen etwas nach.

„Oh Gott, es war nur ein Traum! “, rief ich erschöpft, aber voller Erleichterung, überglücklich.
Vorsichtig stieg ich aus dem Bett, richtete meinen Schlafanzug, schlüpfte mit schmerzenden Füßen in die Hausschuhe und ging zur Haustür meiner Nachbarin. Ich klopfte unaufhörlich, bis sie öffnete.

„Sam, was ist los? Deine Füße bluten, zeig mal, ist es schlimm? “

„Rosalie, ich muss dir eine unglaubliche Geschichte erzählen“, sagte ich aufgeregt.

„Ja, beruhige dich, Sam. Komm erst einmal herein. “




 

Schlusswort
Wer aus Angst vor einem bösen Traum einschläft, wird ihn wahrscheinlich erleben. Die Dämonen lauern nicht unter deinem Bett – sie sitzen in deinem Kopf.

 

 

Kurzgeschichte aus Simmering


 

Andreas K.      

 (a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht )

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