
Ein außergewöhnlicher Freund
Es war kaum zu fassen. Man kann viel erzählen, doch ehrlich zu bleiben, erfordert Charakter. Vor Jahren war ich ein begeisterter Hobbysportler. Der Sport bestimmte mein Leben. Ich widmete mich einer beliebten Sportart mit großer Leidenschaft. Doch eines Morgens merkte ich, dass meine Motivation verschwunden war. Plötzlich war sie weg. Eine Weile versuchte ich, mich zu motivieren, doch der Ehrgeiz fehlte. Mein Körper war erschöpft. Ich arbeitete zwar, doch mit der restlichen Zeit wusste ich nichts anzufangen. Mein Alltag bestand nur noch aus Arbeiten, Essen, Trinken, Fernsehen und Schlafen.
Zehn Jahre später erwachte ich aus meinem lethargischen Zustand. Ich konnte nicht mehr zu sehen, wie mein Körper zunahm. Es ekelte mich, wenn ich nackt in den Spiegel schaute. Er missbrauchte meine Faulheit, also beschloss ich, etwas dagegen zu unternehmen. Ich suchte eine Sportart, die ich allein ausüben kann, ohne von anderen abhängig zu sein. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich fürs Laufen. Diesen Sport kann man fast überall betreiben, und die Kosten sind gering. Man braucht nur Laufkleidung und ein Paar Laufschuhe, dann kann es losgehen.
Doch halt, eine perfekte Laufstrecke fehlte noch. Sie sollte möglichst nah an meinem Wohnort liegen. Da ich im elften Wiener Gemeindebezirk gegenüber dem Zentralfriedhof wohne, musste ich nicht lange überlegen. Der Zentralfriedhof eignet sich hervorragend zum Laufen. Er ist für mich nicht nur ein Friedhof, sondern auch ein Waldpark mit einer kleinen Tierwelt.
Viele wissen es vielleicht nicht, aber die Tierwelt dort ist sehenswert: Rehe, Hasen, Füchse, Igel, Feldhamster, Mäuse, Falken, Buntspechte, Raben und mehr. Die Vielfalt des Lebensraums bietet den Tieren unberührte Natur und kleine Wälder, in die sie sich zurückziehen können. Deshalb habe ich diesen inspirierenden Ort zum Laufen gewählt.
An einem schönen Montagnachmittag Anfang Oktober begann ich endlich mit dem Lauftraining, das mir ein alter Sportfreund zusammengestellt hatte. Es war so schonend, dass ich mich langsam wieder ans Sportleben gewöhnen konnte. Drei Wochen lief ich nun schon und genoss jede Minute. Der Friedhof bot die perfekte Kulisse, um den Alltagsstress abzubauen. Mit einem Lächeln im Gesicht und freudigen Gedanken lief ich, als ich plötzlich einen Raben bemerkte, der neben mir herflog. Er kam so nah, dass ich ihn fast berühren konnte. Sein bunter Schnabel und das linke Bein ohne Krallen fielen mir sofort auf.
Einen Raben mit solch einem Schnabel hatte ich noch nie gesehen. Ich wünschte, er könnte sprechen, damit ich ihn nach seinem Schnabel und den fehlenden Krallen fragen könnte. Fasziniert konnte ich kaum den Blick von ihm abwenden. Er begleitete mich bis zum Haupttor des Friedhofs, setzte sich dann auf die Mauer und beobachtete mich, bis ich außer Sicht war.
Zwei Tage später lief ich wieder dort. Kaum in Gedanken versunken, tauchte der Rabe erneut auf und flog neben mir her, im gleichen Tempo. Neugierig schaute ich mich um, ob noch andere Raben in seiner Nähe waren.
Doch in diesem Moment sah ich nur ihn. Ein kurzer Blick auf seinen Schnabel und sein linkes Bein – ja, es war der unverwechselbare Rabe vom letzten Mal. Diesmal ließ mich der Gedanke nicht los, ihn anzusprechen. Also tat ich es:
„Hallo Rabe, erkennst du mich? Ich bin der Läufer vom letzten Mal. “
Leider schenkte er mir keinen Blick. Ich hoffte auf eine kleine Reaktion. Was hatte ich mir nur gedacht? Dass er antwortet oder ein Zeichen gibt? Wie lächerlich! Als ob der Rabe mich verstehen könnte. Doch etwas in mir hoffte weiter auf ein Zeichen. Also fragte ich erneut:
„Rabe, kannst du mich irgendwie verstehen? Wenn ja, gib mir ein Zeichen, egal wie klein. Es würde mich sehr freuen. “
Es schien nicht, als hätte er mich verstanden. Wie auch? Er ist kein Papagei. Was dachte ich mir nur? Plötzlich bemerkte ich eine kurze Bewegung bei ihm, als hätte er genickt.
Bildete ich mir das ein, oder geschah es wirklich? Abrupt blieb ich stehen, und der Rabe setzte sich auf den Grabstein neben mir. Wir starrten uns an, ruhig und ohne zu blinzeln.
„Nein, das kann nicht sein“, rief ich. „Du hast nicht wirklich genickt, oder? “
Der Rabe starrte weiter, ohne eine Miene zu verziehen. Wie versteinert saß er da.
„Bitte, Rabe“, bat ich, „nicke noch einmal, wenn du es kannst. “ Sekunden vergingen, und ich wollte mich gerade abwenden. Da bewegte der Rabe seinen Kopf mehrmals auf und ab. Ein klares Ja. Unfassbar, oder nur Zufall? Das musste ich herausfinden.
„Rabe“, sagte ich, „vielleicht nerve ich dich, aber bitte nicke noch einmal. “
Er sah mir tief in die Augen und nickte schnell. Ein eindeutiges Ja.
Es war einfach fabelhaft, ich fühlte, er versteht mich. Doch trotz dieser Bestätigung blieb ich skeptisch. Gleichzeitig wollte ich mehr aus ihm herauskitzeln, falls ich richtig lag.
„Rabe, kannst du auch ein Nein nicken, habe ich recht? “ Kaum hatte ich das gesagt, kam die Antwort. Er nickte, einmal links, einmal rechts. Kurz, aber eindeutig: ein klares Nein. Unglaublich, er kommuniziert mit mir.
Währenddessen fror ich ein wenig, da ich verschwitzt vom Laufen war. Zudem begann es leicht zu regnen. Also beschloss ich, weiterzugehen, getrieben von Neugier, wie sich der Rabe verhalten würde.
Und siehe da, er setzte sich in Bewegung und ging neben mir her, als würde er mich begleiten. In diesem aufregenden Moment wusste ich kurz nicht, wie ich damit umgehen sollte. Meine Gedanken überschlugen sich, flüsterten mir zu: Fragweiter, finde heraus, was er noch kann.
„Also fragte ich ihn weiter“, mein außergewöhnlicher Freund, hast du heute auf mich gewartet?
Er nickte mehrmals zustimmend. Plötzlich erschrak er, als ein unhörbares Geräusch im Gebüsch ihn aufschreckte. Vor Angst flog er in den Himmel. Einen Moment lang sah ich ihn noch, dann verschwand er in den tief hängenden Wolken. Schade, es war gerade so spannend, und ich hätte ihm noch viele Fragen stellen wollen. Doch das Wetter wurde ungemütlich, und die Dämmerung verdrängte das Tageslicht. Also verließ ich den Friedhof.
Am Haupttor schaute ich noch einmal zurück, aber er saß nicht mehr auf der Mauer. Ich ging weiter und entfernte mich ein gutes Stück, drehte mich dann ein letztes Mal um. Zu meinem Erstaunen stand er wieder auf der Mauer und blickte mir nach. Dieser Anblick rührte mich zu Tränen. Der Rabe weckte in mir etwas, das ich nicht in Worte fassen konnte. Auf dem Heimweg hatte ich nur einen Gedanken: Ich muss so schnell wie möglich zu ihm zurück. Es gibt noch viele offene Fragen, die ich ihm gern stellen möchte.
Am nächsten Morgen hatte ich frei und nutzte die Zeit, um schnellstmöglich den Friedhof zu besuchen. Dort suchte ich sofort nach dem Raben, doch er war nirgends zu sehen. Also ging ich tiefer in den Friedhof, in der Hoffnung, der Rabe würde mich auch ohne Laufkleidung erkennen. Nach einigen Minuten spazierte er plötzlich neben mir her. Mit einem Lächeln schaute ich zu ihm hinunter und sagte: „Hallo Rabe, ich nehme an, du erkennst mich auch ohne Laufkleidung und weißt, wer ich bin. “
Er nickte schnell und bestätigte mit einem „Ja“. Es freute mich sehr, ihn wiederzusehen, und ich vermutete, dass es ihm genauso ging, vorausgesetzt, er verstand mich. Er nickte mehrmals, was seine Freude zeigte. Ich kann es kaum fassen, dass ich mich mit einem Raben verständigen kann. Es ist zwar mühsam, immer Fragen zu stellen, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können, aber die Mühe lohnt sich. Es ist verrückt, und niemand würde mir glauben, sollte ich es jemals erzählen.
Neugierig fragte ich weiter: „Rabe, verstehst du auch die anderen Leute? “ Doch er schwieg. Verwundert fragte ich erneut, aber wieder blieb er stumm. Ohne eine Regung starrte er geradeaus, während wir schweigend nebeneinander hergingen. Plötzlich hörte ich eine Stimme:
„Natürlich verstehe ich die anderen Leute. “
Erschrocken drehte ich mich um, doch niemand war zu sehen. Das feuchte Herbstwetter schien die Spaziergänger vom Friedhof fernzuhalten. Ein leichter Nieselregen und Nebel lagen über dem Gelände. Ich fragte mich, woher die Stimme kam, die ich gehört hatte. Immer wieder blickte ich zurück, doch niemand war zu entdecken. Vielleicht hatte ich es mir nur eingebildet. Ratlos schüttelte ich den Kopf. Da erklang die geheimnisvolle Stimme erneut:
„Hallo, der, den du suchst, ist hier unten. Ich verstehe viele Sprachen der Menschen, die hier spazieren. “
Langsam, mit ungläubigem Blick, schaute ich auf den Raben hinunter.
Nervös und stockend fragte ich ihn: „Rabe, hast du gerade mit mir gesprochen? “
„Ja, ich sprach zu dir, doch du hörtest mich nicht“, antwortete er.
Unglaublich, dachte ich, der Rabe kann sprechen. Das kann nicht sein, mein Verstand spielt mir einen Streich.
„Nein“, sagte der Rabe, „das tut er nicht. Ich spreche deine Sprache schon lange. “
Fassungslos stand ich da, sprachlos. Meine fröhlichen Gedanken zerplatzten, während ich mich fragte, was hier vorgeht. Sind es böse Kräfte, die dahinterstecken? Was für ein teuflisches Spiel ist das? Gehört der Rabe zur dunklen Seite? Ist er ein Vertreter der schwarzen Magie? Langsam kroch die Angst in mir hoch. Um sie zu bekämpfen, sprach ich lauter:
„Rabe, gehörst du der dunklen Seite an, die mit schwarzer Magie zaubert? Deine Fähigkeit zu sprechen muss teuflischen Ursprungs sein. “
„Nein“, entgegnete er, „es hat mit meinem Vater zu tun. “
„Was meinst du damit, Rabe? Das verstehe ich nicht. “
„Mein Vater lehrte mich vor vielen Jahren eure Sprache. “
„Dann hatte dein Vater sicher mit schwarzer Magie zu tun. “
„Nein“, sagte der Rabe, „er war einfach ein sehr intelligenter Arakanga-Papagei. “Seine große Liebe, meine Mutter, war ein Kolkrabe. Mein Aussehen habe ich von ihr, doch Schnabel, Alter und Können verdanke ich meinem Vater. Vor 54 Jahren kam ich in einem Käfig zur Welt, mitten in einem Alpaka-Gehege. Dieses gehörte zu einem berühmten Wanderzirkus, der gerade in Mailand gastierte. So bin ich, oder wäre ich, ein echter Italiener, wie mein Vater, der ebenfalls in Italien geboren wurde.
Wenn das alles stimmt, was du erzählst, Rabe, dann erklärt sich der bunte Schnabel. Doch erscheint mir die Geschichte seltsam, da ich Papageien sprechen hörte, die nicht annähernd deine Sprachkunst erreichen.
„Ich weiß, dass es schwer zu glauben ist“, „aber es ist die Wahrheit. Ich wuchs in einem Zirkus auf, wo mein Vater eine Hauptattraktion war. Seine Sprachkünste waren damals in vielen Ländern bekannt. “
Mein Vater sprach drei Sprachen und brachte sie mir bei. Doch für die Zirkusmitglieder wurden die Zeiten immer schwieriger. Kaum hatten sie 1939 die Weltwirtschaftskrise überstanden, begann der Zweite Weltkrieg. Der Direktor zog mit seinem Zirkus zurück nach Liechtenstein. Dort blieben sie bis Kriegsende und kämpften ums Überleben. Das gelang den meisten, denn der Zusammenhalt war stark. In dieser schweren Zeit traf er die Liebe seines Lebens, meine Mutter.
Die Tochter des Zirkusclowns fand sie zufällig und rettete sie. Schwer verletzt lag sie am Straßenrand, dem Tod nahe. Doch die Tochter hatte ein großes Herz für verletzte Tiere, besonders Vögel. Sie nahm sie mit und pflegte sie gesund. Als meine Mutter meinen Vater im Zirkus traf, war es um sie geschehen. Ich kam in den späten fünfziger Jahren zur Welt. Vor und nach mir schlüpfte kein weiteres Küken. So blieb ich das Einzige, was sie hatten. Ihre ganze Liebe und all die Wiesen gaben sie an mich weiter.
Mein Vater unterrichtete mich täglich, von früh bis spät. Doch niemand durfte wissen, dass ich wie er sprechen konnte. Meine Eltern sagten stets, ich solle es wie einen Schatz hüten. Nur so könnte ich vielleicht eines Tages die Freiheit erlangen. Meine Mutter erzählte oft von ihrem früheren Leben in Freiheit. Mein Vater hörte ihr gerne zu, denn er hatte sein ganzes Leben im Zirkus verbracht. Er sprach oft von Südamerika, der Heimat seiner Vorfahren. Dorthin wollten wir drei fliegen, wenn wir es schafften, frei zu kommen. Bis zum Tod meiner Mutter waren wir unzertrennlich; danach endete die schöne Zirkuszeit. Mein Herz war gebrochen, und mein Vater war nicht mehr er selbst.
„Das tut mir sehr leid für dich, Rabe. Deine Geschichte berührt mich. Kannst du mir deinen Namen verraten? Ich würde dich gerne richtig ansprechen. “
„Nein, bitte nicht. Lass es bei Rabe. So fällt es uns leichter, sollten sich unsere Wege trennen. “
„In Ordnung, dann bleiben wir dabei. Bitte erzähle weiter. “
Ich konnte kaum noch vernünftig mit meinem Vater sprechen. Seine Trauer machte ihn verschlossen. Seine Psyche litt schwer. Deshalb misslangen seine Zirkusauftritte. Man pfiff ihn aus, beleidigte und bespuckte ihn, doch das ließ ihn kalt. Mein Vater war am Ende, er hatte seinen Lebenswillen verloren. Der Direktor war nicht mehr sein Freund, da er kein Publikumsmagnet mehr war. Er ließ uns in Ruhe, mein Vater musste nicht mehr auftreten. Er hoffte, mein Vater würde sich erholen. Doch je länger sein schlechter Zustand anhielt, desto verärgerter wurde der Zirkusdirektor.
Du bist nicht mehr tragbar, wenn du kein Geld mehr für den Zirkus verdienst, schrie der Direktor meinen Vater an. Doch mein Vater starrte nur vor sich hin. Vom Zorn und der Geldgier getrieben, zog der Direktor seine Peitsche und schlug auf meinen Vater ein. Mein Vater wehrte sich nicht und lag nach Sekunden der brutalen Attacke tot am Boden. Ich schrie mit Tränen in den Augen: „Nein, Vater, bitte, steh auf! “ Doch sein Herz blieb still. Der Anblick war schrecklich und verfolgt mich bis heute in Albträumen. Er war ein bunter, großer, starker Papagei und der beste Vater der Welt. Dies geschah kurz vor seinem 62. Geburtstag.
„Lieber Rabe, das alles erfüllt mich mit tiefer Traurigkeit. Ich hätte gerne deine Eltern kennengelernt. “
„Ich danke dir für dein Mitgefühl, mein Freund, wenn ich das so sagen darf. “
„Natürlich darfst du das, Rabe. Auch ich möchte dich meinen Freund nennen. “
„Danke, das nehme ich mit größter Freude an. “
Nun will ich dir das Ende der Geschichte erzählen. Der Tag, an dem mein Vater starb, veränderte mein Leben. Der Zirkusdirektor erfuhr, dass ich sprechen konnte. Er ließ mich nicht in Ruhe und plante eine neue Show für mich, die wir in Wien zeigen sollten.
„Drei Tage haben wir zum Üben“, rief er. „Danach musst du perfekt auftreten. Du wirst nicht nur besser als dein Vater sein, sondern auch mehr Geld einbringen. “
Doch ich ignorierte ihn und schwieg seit dem Tod meines Vaters. Das entfachte seinen Zorn. Mit der Peitsche drohte er, mir würde es wie meinem Vater ergehen, wenn ich nicht gehorchte. Als er das sagte, drehte ich mich provokant weg. Vor Wut schäumend, griff er zur Peitsche und schlug dreimal zu, doch der Käfig schützte mich. Dann öffnete er den Käfig, um mich herauszuziehen. Diese Gelegenheit nutzte ich.
Mit meinem scharfen Schnabel hackte ich mehrmals kräftig in seine Hand. Vor Schmerz zuckte er zurück. Diese Gelegenheit nutzte ich, um durch das Käfigtor in die Freiheit zu entkommen. Mit Schwung flog ich auf das Zirkuszelt und blieb dort bis spät in die Nacht. Währenddessen schmiedete ich einen teuflischen Plan voller Rache Gedanken.
Ich wartete, bis der Zirkusdirektor betrunken zu Bett ging, denn das war unter den Artisten kein Geheimnis. Die ganze Zirkusfamilie kannte seine Probleme, doch niemand wagte es, dem tyrannischen Direktor zu widersprechen. Ich wusste auch, dass er seine Petroleumlampe die ganze Nacht brennen ließ, weil er im Dunkeln nicht schlafen konnte.
Als die Nacht am dunkelsten war, flog ich zu seinem Wohnwagen. Ein Fenster stand immer einen Spalt offen, egal wie kalt es draußen war. Diese Schwachstelle nutzte ich aus und kletterte hinein. Ohne zu zögern, stieß ich die brennende Petroleumlampe mit dem Schnabel um.
Im selben Moment verließ ich den Wohnwagen, kurz darauf stand alles in Flammen. Für den geldgierigen und bösartigen Zirkusdirektor kam jede Hilfe zu spät. In dieser dunklen, grauenhaften Nacht flog ich ohne einen Blick zurück für immerfort. Noch bevor der Morgen dämmerte, fand ich mein neues Zuhause: den Zentralfriedhof, den ich seit 50 Jahren nichtmehr verlassen habe.
Ich bereue nur die schreckliche Tat, nicht das Verbrechen an einem so bösen Menschen. Dennoch reiße ich mir jedes Jahrzehnt eine Kralle am linken Bein aus, um Buße zu tun. Ich lebe hier wie in der Verbannung und belegte mich selbst mit einem beängstigenden Fluch, den ich ohne Reue stets eingehalten habe.
„Wie lautet dieser Fluch, wenn ich fragen darf, Rabe? “
Sollte ich jemals den Friedhof verlassen, möge mich der Tod schnell finden. So lautet der Fluch, so soll es geschehen. Das ist meine Geschichte, mein Freund. Urteile über mich, wie du möchtest, doch ich hoffe, es ändert nichts an unserer Freundschaft.
„Rabe, wer bin ich, dass ich über dich urteilen darf? Nein, was geschehen ist, soll nach so vielen Jahren ohne Verrat geschehen bleiben. “
„Danke, mein Freund, genau so soll es für immer sein. “
„Warum hast du mir dieses Geheimnis nach so vielen Jahren erzählt, Rabe? Oder gab es vor mir noch jemanden, dem du dich anvertraut hast? “
„Nein, du bist der erste und letzte Mensch, der diese Geschichte von mir hört. Seit jener abscheulichen Nacht sprach ich mit niemandem, bis du kamst. Jeder andere, dem ich in 50 Jahren zu nahekam, wollte mich nur vertreiben, außer dir. Darum wählte ich dich aus; du kennst als Einziger mein Geheimnis. “
„Ich danke dir für dieses Vertrauen, Rabe. Leider muss ich jetzt den Heimweg antreten, die Dämmerung setzt langsam ein. Aber ich komme gerne morgen am späten Nachmittag wieder vorbei, wenn du möchtest. “
„Ja, mit großer Freude erwarte ich dich morgen, mein Freund. “
Als ich den Friedhof durch das Haupttor verließ, blickte ich wie immer zur Friedhofsmauer hinauf. Stolz und voller Freude saß er dort und beobachtete mich, während ich den Vorplatz überquerte. Plötzlich griff mich ein streunender Hund an. Der Rabe kam sofort und ohne Zögern zu Hilfe.
Weder Furcht noch Fluch konnten das verhindern. Die Freundschaft zu mir war stärker als die Vernunft, die vor einem aussichtslosen Kampf warnte. Nach einem heftigen Gefecht, das sich über etliche Meter erstreckte, biss der Hund ihn in den Oberkörper. Schließlich stürzte der Rabe schwer verletzt zu Boden.
Ich schrie: „Nein, du teuflischer Hund! “ und warf einen Stein nach ihm. Doch das Unglück war geschehen. Der böse Hund verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war. Ich eilte zu dem Raben und hob ihn vorsichtig hoch. Er lebte noch, doch sein Ende war nah.
Trotz seiner schweren Verletzung fragte er mit schwacher Stimme:
„Mein Freund, waren wir siegreich? “
Mit Tränen in den Augen und schwerem Herzen antwortete ich:
„Ja, das warst du. Du hast den Feind verjagt und mich gerettet. Ich werde dir ewig dankbar sein. Du bist der tapferste Rabe, den es gibt. “
„Mein Freund, ich glaube, es geht zu Ende mit mir. Eine letzte Bitte habe ich: Begrabe mich auf diesem Friedhof. Simmering ist meine Heimat geworden, nur hier konnte ich in Freiheit leben. “
„Ja“, verspreche ich dir, mein außergewöhnlicher Freund. Wo soll es geschehen?
„Unter dem Nussbaum“, bei dem Grab mit der großen knienden Ritterstatue.
„Dein letzter Wunsch soll erfüllt werden“, edler Rabe. Mit diesen Worten schloss er für immer die Augen in meinen Händen. Seitdem sind Jahre vergangen. Doch jedes Mal, wenn ich den Friedhof besuche, gehe ich zu seinem Grab. Beim Verlassen blicke ich mit schwerem Herzen zur Friedhofsmauer. Einen so außergewöhnlichen, edlen Freund vergisst man nicht.
Schlusswort
Hoch lebe der Zentralfriedhof und seine wunderbaren Tiere. Jeder könnte einmal die Tiere brauchen, um sich von den Menschen zu erholen.
Kurzgeschichte aus Simmering
Andreas K.
(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht )