top of page

Die Blues-&-Jazz-Bar

Liebe ist für die meisten ein starkes Gefühl der Zuneigung zu einer anderen Person. Dieses himmlische Empfinden erlebte meine Mutter in einer Zeit, als viele Menschen mühsam versuchten, Normalität zu finden. Es war 1950, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in der Nachkriegszeit. Die Menschen in diesem Land steckten mitten im Wiederaufbau ihrer Heimat. Obwohl die Großindustrie langsam das Wirtschaftswachstum ankurbelte, herrschte noch immer sichtbare Hungersnot. Die fünfziger Jahre begannen als eine Ära, in der die vom Krieg gezeichneten Menschen vor allem Ruhe und Sicherheit suchten.

Alles begann in der Blues & Jazzbar in Wien, Simmering. Diese Tanzbar schmückte eine prächtige Glaskuppel in der Mitte. Darunter lag eine kleine Tanzfläche mit einem besonderen Reiz: Man konnte beim Tanzen in den Sternenhimmel blicken, vorausgesetzt, die Nacht war klar und wolkenlos. Jeder fühlte sich an diesem magischen Ort einzigartig. Voller himmlischer Träume schwebte man förmlich über das Parkett.

Meine Mutter half dort so oft wie möglich als Kellnerin aus. In dieser schwierigen Zeit war es nicht selbstverständlich, einer Arbeit nachzugehen. Die Bar zog viele Besatzungssoldaten der britischen Armee an, die leider keinen guten Ruf hatten. Jeder wusste, dass es dort wild zuging – Alkohol, Sex und mehr.

Doch die meisten Frauen aus der Gegend ließen sich nicht davon abhalten, die Bar zu betreten. Sie alle hatten wohl den selben Gedanken: einen britischen Offizier kennenzulernen. Sie hofften, dadurch eine bessere Zukunft zu finden, als die, die ihnen bevorstand. Für die alleinstehenden Frauen war die Auswanderung nach England mit einem Offizier der große Traum. Meine Mutter hingegen fand das Benehmen der Soldaten meist abscheulich. Sie dachte nicht daran, je etwas mit einem Soldaten anzufangen. Jeder mit einem Funken Verstand erkannte, dass die Soldaten die Situation schamlos ausnutzten. Sie versprachen den Frauen in ihrer aussichtslosen Lage das Blaue vom Himmel, doch nur wenige erhielten es. Die wenigen einheimischen Männer besuchten die Bar selten und meist nur, um Neuigkeiten zu erfahren.

Doch diese Treffen endeten meist mit Schlägen. Hatten sie großes Glück, blieben es bei tief beleidigenden Worten. Die Soldaten verloren oft die Kontrolle, wenn der Alkohol sie beherrschte. Prügeleien standen auf der Tagesordnung, ebenso wie grundlose, blutige Schießereien. Leider musste meine Mutter in dieser schamlosen Bar arbeiten, obwohl sie es nicht wollte. Meine Großmutter war zu alt und krank, um zu arbeiten. Seit einigen Jahren leidet sie an einer Behinderung, die sie stark einschränkt. Mein Großvater starb im Zweiten Weltkrieg; er kehrte nicht aus Russland zurück. Man nahm an, er sei in Stalingrad gefallen, und die Behörden bestätigten seinen Tod. Da meine Mutter das einzige Kind war, konnte niemand außer ihr arbeiten.

Tagsüber führte sie den Haushalt, kochte für ihre Mutter und arbeitete abends meist in der Bar. Es fiel ihr schwer, alles unter einen Hut zu bringen. Zudem war der Verdienst in der Bar dürftig. Oft erhielt sie statt Geld nur Tauschware wie Getränke oder Lebensmittel. Selten bot man ihr eine begehrte Lebensmittelkarte an, die vielen Familien in dieser Zeit half. In der Nachkriegszeit organisierten vor allem Frauen die Versorgung der Familien, während die Männer abwesend waren. Meine Mutter lebte mit meiner Großmutter in einem kleinen Gartenhaus gegenüber dem ersten Tor des Zentralfriedhofs in Simmering.

Die Gartensiedlung lag nahe der Blues & Jazzbar, sodass Großmutter sie schnell erreichen konnte, wenn es ihr schlecht ging. Einen unterhaltsamen Abend mit Freunden gönnte sie sich nie. Für die Verantwortung, die sie in jungen Jahren trug, blieb keine Zeit für Vergnügungen. Eines Abends tauchte unerwartet eine kleine Gruppe Amerikaner in der Bar auf. Das war ungewöhnlich, da sie sich normalerweise nicht mehr so spät in dieser Gegend aufhielten, die von der britischen Besatzungsmacht kontrolliert wurde. Doch die Amerikaner hatten von dieser besonderen Bar gehört, in der täglich wundervolle Musik erklang. Jeden Abend konnte man stundenlang Blues und Jazz hören. Diese berührende Musik ließ die Soldaten in dieser schweren Zeit von zu Hause träumen. An diesem Abend setzten sich die Amerikaner an den Tisch mit dem besten Überblick in der Bar. Meine Mutter erkannte sofort ihr anständiges Benehmen. Sie trat an ihren Tisch und fragte nach ihren Getränkewünschen.

Einer der Soldaten fiel ihr sofort auf. Er sprach akzentfreies Deutsch, was meine Mutter überraschte. In diesem Moment verliebte sie sich auf den ersten Blick. Auch er empfand dasselbe für sie, und so begann eine bezaubernde Liebesgeschichte. Fast jeden Abend nach Sperrstunde tanzten sie miteinander und betrachteten die Sterne. Mein Vater sagte oft: "Tanzen ist wie Träumen mit den Füßen." Der Ausblick war wunderschön, und ihre Träume schienen endlos. Sie versprachen einander, nie zu lügen oder zu enttäuschen. Sie schmiedeten Zukunftspläne und versprachen, zu heiraten. Sie wollten eine Familie gründen, Kinder bekommen, und nannten sogar einen Wunschnamen: Aidan für einen Sohn. Sie waren sicher, ihr Leben gemeinsam zu verbringen. Diese Träume unter dem Sternenzelt teilten sie in ihrer romantischen Blues- und Jazzbar. Nichts schien sie trennen zu können. Er schrieb ihr eine Liebeserklärung, die sie tief berührte.

Meine ewige Liebe,
Du bist das Schönste, was mir je begegnet ist. Ich habe den liebenswertesten Menschen gefunden, und er trägt Deinen bezaubernden Namen. Du bist unglaublich hübsch und nett, nichts auf dieser Welt kommt Dir nahe. Stundenlang könnte ich Dir zusehen, wie Du lachst, sprichst und atmest. Ich kann kaum fassen, dass ich Dich gefunden habe. Dank Dir verspüre ich kein Heimweh mehr, wenn Du bei mir bist. Alles, was Du für mich tust, tut mir einfach gut. Deshalb lege ich mein überglückliches Herz mit all meiner Liebe in Deine warmen, schützenden Hände. Jeden Morgen möchte ich Dir sagen, wie unfassbar froh ich bin, dass Du bei mir bist. Es ist wundervoll, dass es Dich gibt. Nichts tut mir so gut wie Du.

Danach schwebte sie im siebten Himmel, ihre Gefühle für ihn waren unbeschreiblich. Selbst meine Großmutter, die sonst nie ein gutes Wort über Soldaten verlor, lobte ihn überschwänglich. Sie fand ihn sehr hübsch und unglaublich sympathisch. Alles lief wunderbar für beide, fast wie in einem Märchen. Doch wie so oft im Leben kam alles anders. Etwas Unvorhersehbares geschah, und das Unheil nahm seinen Lauf.

Er hinterließ meiner Mutter einen Brief, der die Situation erklären sollte, bevor er nach Amerika zurückkehrte, doch er erreichte sie nie. Der Kamerad, dem er den Brief anvertraute, verstarb vermutlich oder konnte ihn aus anderen Gründen nicht übergeben. Als mein Vater nicht mehr in der Blues & Jazzbar auftauchte und sich nicht meldete, beschloss meine Mutter, ihn zu suchen.

Getrieben von der Sorge, etwas Schlimmes könnte passiert sein, suchte sie ganz Wien nach ihm ab. Sie durch kämmte Militärspital und Kasernen, doch fand keine Spur von ihm. Am Stützpunkt im 1. Bezirk, wo er stationiert war, verweigerte man ihr aus persönlichen Gründen jede Auskunft. So konnte sie ihm nicht mitteilen, dass er Vater wird, eine Nachricht, die sie selbst erst kürzlich erfahren hatte. Ihre einzige Hoffnung blieb, irgendwann etwas über ihn zu erfahren. Jeder, der abends die Bar betrat, ließ in ihr den Wunsch aufkeimen, es könnte er sein. Die Zeit verstrich, und mit ihr schwand der letzte Hoffnungsschimmer, den sie hegte. All die Jahre glaubte sie, er sei einfach abgehauen, heimlich nach Amerika zurückgekehrt, ohne Abschied. Sie vermutete sogar, dass eine andere Frau im Spiel war, die er vor ihr verborgen hielt.

Einige Monate später brachte meine Mutter mich unter schwierigen Umständen zur Welt, nur begleitet von meiner Großmutter. Ich wuchs in einem Haushalt mit zwei Frauen auf, wo Disziplin und Respekt großgeschrieben wurden. Trotz allem sprach meine Mutter nur gut von meinem Vater, und ich hörte in ihrer Stimme, wie sehr sie ihn noch liebte. Kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag, verstarb meine Großmutter plötzlich. Sie legte sich eines Abends früh schlafen und wachte nie wieder auf. Ich erinnere mich daran, weil ich gerade die Oberstufe im Gymnasium begann. Diese Zeit war schwer für mich; der Tod meiner Großmutter warf mich fast aus der Bahn. Sie war unglaublich liebevoll und ermutigte mich täglich mit aufmunternden Worten. Mit lustigen Geschichten heiterte sie mich auf, wenn es mir schlecht ging. Wir verbrachten viel Zeit zusammen, da meine Mutter oft arbeiten musste. Der Gedanke, sie nicht mehr bei uns zu haben, brach mir das Herz.

Ich konnte dem Unterricht kaum noch folgen und stand kurz vor dem Schulabbruch. Der Direktor des Gymnasiums sagte meiner Mutter, ich würde es nicht schaffen und solle die Schule verlassen. Meine Mutter war außer sich und schrie ihn an: „Nein, nicht mein Sohn! Er wird hier seinen Abschluss machen. “ Sie setzte alles daran, verbrachte jede freie Minute mit mir, unterstützte mich bei Prüfungen und munterte mich in schwierigen Zeiten auf. Ihr verdanke ich meinen Schulabschluss und die bestandene Matura. Voller Zuversicht begann ich danach ein Musikstudium. Zwei Jahre später, aus heiterem Himmel, wurde meine Mutter schwer krank.

Die Diagnose Darmkrebs im Endstadium traf sie hart. Ich brach sofort mein Studium ab und kümmerte mich nur noch um sie. Sieben Wochen lang war ich Tag und Nacht an ihrer Seite und sah, wie ihr Körper stündlich schwächer wurde. Am Ende blieb nur der erschütternde Verfall eines zierlichen Frauenkörpers. Trotz unerträglicher Schmerzen dachte sie bis zuletzt nur an meinen Vater und mich. In ihren letzten Tagen sprachen wir ernsthaft darüber, wie es mit mir weitergehen sollte. Gemeinsam beschlossen wir, meinen Vater in Amerika zu suchen, da ich außer ihr in Wien niemanden mehr hatte. Vielleicht lebt er noch, und ich könnte bei ihm in Amerika neu anfangen. Wenige Stunden nach diesen Gesprächen starb meine Mutter im Alter von nur vierundvierzig Jahren.

Tage später fand die Beerdigung im kleinen Kreis statt, bei strömendem Regen. Der Pfarrer sprach von Engeln, die sie weinend in den Himmel begleiteten. Nun stand ich da, alleine auf mich gestellt, musste ich unser Gartenhaus verkaufen, um die Reise nach Amerika zu finanzieren. Meine Mutter konnte mir kaum etwas Nützliches über meinen Vater erzählen. Das Einzige, was sie von ihm hatte, war ein halb zerrissenes Foto, das sie wie einen Schatz hütete. Sein Name sei Ethan Jones, falls das stimmt. Angeblich lebt er in Idaho City, im Nordwesten der USA. Mit zwanzig Jahren zog es mich nach Amerika, um meinen Vater zu suchen, der nichts von meiner Existenz weiß. Ohne Reiseerfahrung und mit dem letzten Geld aus dem Gartenhausverkauf flog ich nach Idaho.

Nach langer Flugreise landete ich in Boise, der Hauptstadt Idahos. Anschließend fuhr ich mit dem Bus nach Idaho City, um mein Ziel zu erreichen. Dort suchte ich ein Hotel, da es bereits dunkel war und die Müdigkeit mich übermannte. Am nächsten Morgen, ausgeruht und voller Tatendrang, genoss ich ein deftiges Frühstück. Dabei überlegte ich, wie ich am besten nach meinem Vater suchen könnte. Schließlich entschied ich mich, zuerst die einzige Polizeistation in Idaho City aufzusuchen und meine Geschichte zu erzählen. In der Polizeistation traf ich den zuständigen Sheriff. Ich schilderte ihm ausführlich und gefühlvoll meine Lage. Er reagierte emotional und bot mir sofort seine Hilfe an.
Die Einwohnerzahl von Idaho City war überschaubar, denn nur wenige Menschen lebten hier. Zu meiner Überraschung versicherte mir der Sheriff, dass es in seiner Stadt nur einen Ethan Jones gibt. Deshalb würde die Suche nicht lange dauern. Gemeinsam fuhren wir im Streifenwagen zur Familie Jones. Auf dem Weg dorthin stieg mein Puls plötzlich an. Ich fragte mich, wie mein Vater mir begegnen würde, falls er es ist. Doch letztlich war mir das egal, denn meine Neugier und das Verlangen, ihn zu sehen, überwogen die Angst vor einer möglichen Enttäuschung. Vielleicht ist dieser Ethan Jones wirklich mein Vater, und ich kann ihn richtig kennenlernen. Unerwartet hielten wir vor dem Hotel, in dem ich gestern Abend eingecheckt hatte. Es ist ein kleines Hotel mit einem angebauten Restaurant namens Elch. Was ich bis dahin nicht wusste: Es war das einzige Hotel in Idaho City. Noch erstaunlicher war, dass es der Familie Jones gehört. Wer hätte das gedacht?

Wir betraten das Hotel, und der Sheriff erkundigte sich an der Rezeption nach Ethan Jones. Die Empfangsdame schickte ihn in die Küche. Höflich bat er mich, an der Rezeption zu warten, da er Ethan allein zu dieser besonderen Geschichte befragen wollte. Nach einer Weile kamen beide aus der Küche und gingen direkt auf mich zu. Ethan trug Arbeitskleidung, offenbar war er der Koch des Hotels. Er sprach mich an:

„Ist diese Geschichte wirklich wahr? Ich habe Zweifel an ihrer Echtheit. “

„Mr. Ethan Jones, ich verstehe Ihre Skepsis, aber ich bin kein Lügner. Ich suche die Wahrheit und frage mich, ob Sie der Ethan Jones sind, den ich suche. Ich habe ein Foto, das mir meine Mutter gab, und ich glaube, der Mann darauf sind Sie. “
Ich zeigte ihm das Foto, das ich von ihm hatte. Verblüfft starrte er darauf, so überrascht, dass er einen Moment sprachlos blieb. Plötzlich zog er eine Geldbörse aus seiner Hosentasche, darin die passende zweite Hälfte des Fotos. Wir fügten die Teile zusammen und sahen ein junges Liebespaar. Eindeutig erkannte ich meine Mutter. Mit Freudentränen in den Augen schluchzte er leise: „Meine wundervolle Luise“, und küsste das Bild meiner Mutter.
„Ich habe ein ungutes Gefühl und zögere zu fragen, aber ich muss: Geht es Luise gut? “

„Nein, meine Mutter Luise starb vor wenigen Tagen nach kurzer, schwerer Krankheit. “ Falls ich sie finde, soll ich Ihnen noch etwas von ihr ausrichten. Selbst der Tod kann meine große Liebe zu Ethan Jones nicht mindern.

Er stützte sich mit beiden Händen an der Empfangstheke ab. Der Schmerz war zu stark, um aufrecht stehen zu können. Er stand kurz vor einem Zusammenbruch, ausgelöst durch die furchtbare Nachricht. Der Sheriff und ich beruhigten ihn so gut es ging. Langsam, aber erfolgreich, stabilisierte sich sein Zustand. Als sich seine Aufregung legte, bat er mich, in der Hotellobby Platz zu nehmen. Er ließ Getränke bringen und stellte mir einige Fragen zur Situation. Gleichzeitig dankte er dem Sheriff und sagte, dass wir den Rest unter uns klären würden.
„Junger Mann, Ihr Name steht im Gästebuch als Aidan Paiper. Stimmt das? “
„Ja, Mr. Jones, meine Mutter gab mir diesen Namen. Mein Vater wünschte sich ihn. “
„Luise versprach mir damals, der erste Sohn solle Aidan heißen. War deine Mutter jemals verheiratet? “
„Nein, sie liebte nur einen Mann in ihrem Leben, und das waren Sie, Mr. Jones. “ Als Sie sie verließen, suchte sie verzweifelt nach Ihnen. Ganz Wien durchkämmte sie, um Ihnen mitzuteilen, dass Sie Vater werden. Doch niemand gab ihr Auskunft. Obwohl sie keine Aussicht auf Erfolg hatte, verlor sie nie die Hoffnung auf ein Wiedersehen.
„Junger Mann, können wir uns duzen? “
„Ja, natürlich. “
Aidan, damals war die Lage äußerst schwierig. Ich musste dringend nach Hause, denn mein Vater lag im Sterben. Das Flugzeug war startbereit, ich musste sofort handeln. Für eine Verabschiedung von deiner Mutter blieb keine Zeit. Ich schrieb ihr schnell einen Brief, den ein Kamerad ihr in den nächsten Tagen übergeben sollte. Der Brief sollte die Situation mit diesen Worten erklären.

„Meine große Liebe
Ich möchte deinen Duft noch einmal tief einatmen, um ihn nie zu vergessen. Doch das Schicksal erlaubt es nicht. Ich habe gerade erfahren, dass mein Vater im Sterben liegt. Deshalb muss ich Wien sofort verlassen und in meine Heimat zurückkehren. Wenn es das Schicksal zulässt, komme ich so schnell wie möglich zu dir zurück. Du bist die Frau, mit der ich mein Leben teilen will. Luise, du bist und bleibst meine große Liebe. I love you. “

Erst Jahre später erfuhr ich, dass der Brief nie ankam. Darin hatte ich meine Adresse in Amerika mitgeteilt. Ich glaubte all die Jahre, sie hasste mich, weil ich mich nicht persönlich verabschiedet hatte. Da keine Antwort kam, nahm ich an, sie interessierte sich nicht mehr für mich. Als ich die Wahrheit erfuhr, war es zu spät, um ihr zu schreiben. Zu viele Jahre waren vergangen, und ich hatte den Mut verloren. Glaube mir, der Gedanke zurückzukehren, ließ mich nie los. Doch ich konnte meine Mutter nach dem Tod meines Vaters nicht allein lassen. Ich musste ihr helfen, damit wir das Hotel nicht verloren. Mittlerweile ist auch sie verstorben, und mir bleibt nur das kleine Familienhotel. Trotz aller Traurigkeit bin ich jetzt überglücklich, dass es dich gibt. Mit vielem hätte ich gerechnet, aber einen Sohn zu haben, erscheint mir wie ein Wunder. Aidan, sag mir, was hast du vor? Wie geht es mit uns weiter? Du hast deinen Vater gefunden, der hofft, dich besser kennenzulernen.

„Vater, ich habe kein Zuhause mehr. “ Nach Mutters Tod gab ich alles in Wien auf und suchte nach dir. Du bist mein letzter Verwandter, denn Großmutter starb vor fünf Jahren.

„Dann bleib bei mir, mein Sohn. Auch ich habe nur noch dich. “ So können wir uns besser kennenlernen und die verlorene Zeit nachholen. Außerdem brauche ich deine Hilfe im Hotel.

Ich blieb und arbeitete im Hotel mit. Wir erlebten einige schöne Jahre, die mich viel lehrten. Mein Vater zeigte mir die Hotelbranche und betonte den Umgang mit Personal und Gästen. Wir lachten viel und diskutierten oft, doch Streit gab es nie.
Er war ein Mensch, mit dem man nicht streiten konnte, und genau das schätzte ich an ihm: seine Fürsorglichkeit gegenüber anderen. Abends saßen wir oft auf der Holzveranda, ein Glas Wein in der Hand, und blickten in den Sternenhimmel. Dann sprach er gerne über meine Mutter, die er sehr liebte und über all die Jahre vermisste. Doch das gemeinsame Leben, das sie sich wünschten, blieb ihnen verwehrt. Was ihnen blieb, nannte er die Einsamkeit der Liebe. Dieses Gefühl, verbunden mit unerträglichem seelischem Schmerz, wünschte er niemandem.

Über ein Jahrzehnt verbrachten wir gemeinsam. Dann erkrankte er schwer, ein langer Leidensweg begann, bis er schließlich starb. Am Ende verging die Zeit schnell, und ich blieb allein mit einem Hotel zurück. Er wollte im Familiengrab meiner Mutter beerdigt werden, um ihr im Tod nahe zu sein. Ich erfüllte ihm diesen Wunsch und ließ seinen Leichnam nach Wien überführen. Nach der Beerdigung plante ich, nach Amerika zurückzukehren, um das Hotel weiterzuführen. Da ich in Wien nichts mehr hatte, hielt mich nichts dort. Doch als ich den Wiener Zentralfriedhof verließ, entdeckte ich gegenüber die legendäre Blues & Jazzbar.

Sie stand seit Jahren zum Verkauf. Ich zögerte nicht und beschloss sofort, sie zu kaufen. So entschied ich, Amerika aufzugeben und nach Wien zurückzukehren. Das fiel mir leicht, denn von Vaters Verwandtschaft kannte ich niemanden mehr. Das Haus meiner Großeltern, das ich einst verkaufte, existierte nicht mehr. Doch ich erwarb ein anderes in derselben Gartensiedlung. Einige Jahre später traf ich meine Frau und gründete eine Familie. Mittlerweile sind über zwei Jahrzehnte vergangen. Ich bin stolzer Vater dreier Kinder und noch immer Besitzer der Blues & Jazzbar, die sich inzwischen etwas verändert hat. Tagsüber ist sie ein Restaurant, abends verwandelt sie sich in die rhythmusvollste Blues& Jazzbar der Stadt. Wir sind nun ein Familienbetrieb und arbeiten gemeinsam in der Bar.

Die legendäre Nachtbar blieb weitgehend unverändert, doch wir fügten ein Restaurant hinzu. Nun können Gäste auch hervorragend bei uns speisen, mit einem gemütlichen Gastgarten im Freien. Meine Frau und unser jüngster Sohn leiten die Küche, die im Bezirk großen Ruhm erlangte. Mein ältester Sohn und meine Tochter bedienen die Gäste und kümmern sich um die Reservierungen. Ich selbst sorge für die Musik, was mir sehr am Herzen liegt, denn ich liebe Blues und Jazz über alles. Diese Musik bewahrt die magische Kraft, die uns seit Jahrzehnten in dieser Bar begeistert. Jeden Samstagabend spielen bei uns junge Musiktalente live Blues und Jazz. Sie erhalten so die Chance, in der Stadt bekannt zu werden. Noch immer tanzen die Gäste die ganze Nacht hindurch bis in den frühen Morgen, berauscht von unglaublicher Musik und fantastischem Rhythmus. Diese traumhafte Stimmung verleiht der Bar eine persönliche Note, die man in Wien kaum findet.

Wir hatten das Vergnügen, einige der besten Blues- und Jazzmusiker bei uns willkommen zu heißen, darunter Dinah Washington, Eddie Chamblee, Nat „King“ Cole, Brook Benton, George Shearing, Benny Goodman, Charlie Parker, Nancy Wilson und Joe Zawinul. Sie alle begeisterten unser Publikum stets mit großer Freude. Joe Zawinul bemerkte einmal, dass die leidenschaftliche Begeisterung unseres Publikums eine seiner liebsten Eigenschaften sei.

Spätabends nach der Sperrstunde tanzen meine Frau und ich gerne zusammen, wie einst meine Eltern. Wir blicken in den Sternenhimmel und genießen bei klarer Sicht die wunderschönen Sternbilder. Manchmal flüstere ich einen Wunsch zu den Sternen, in der Hoffnung, er erfüllt sich. Oder ich denke an die schöne Zeit mit meiner Großmutter, Mutter und meinem Vater. Hätte ich damals nicht den Mut gehabt, meinen Vater zu suchen, wäre all das, was ich heute erreicht habe, ohne die Unterstützung meiner Familie nicht möglich gewesen.

Der Verkauf des Hauses meiner Großeltern und des Hotels meines Vaters ermöglichte mir, das stimmungsvollste Lokal in Simmering zu besitzen, vielleicht sogar in ganz Wien. Regelmäßig besuche ich das Grab meiner Eltern, spreche mit ihnen und danke ihnen dafür, dass es sie gab. Wenn die Zeit reif ist und der Tod mich findet, werde ich glücklich sein, mich ausruhen zu können. Am liebsten würde ich das bei meinen Eltern im Familiengrab tun, um ihnen nahe zu sein, was zu ihren Lebzeiten nicht möglich war. Wer weiß, vielleicht gibt es ein Leben nach dem Tod. Auf jeden Fall hoffe ich darauf.


 

 

Schlusswort
Nur die Kunst der Liebe vermag es, den anderen mit einem Dornenbusch zu streicheln, ohne zu verletzen. Sie gleicht dem Wind: unsichtbar, aber spürbar. Und egal, wie weit man sich von ihr entfernt, entkommen kann man ihr nicht.

Kurzgeschichte aus Simmering



                                                                                                                                                     
 
Andreas K.

(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht )

bottom of page