
Die Bank am Rande des Friedhofs
Es war ein milder Herbstnachmittag in Simmering. Der Himmel hing grau und schwer wie Watte, unentschlossen, ob er Regen schicken oder den trüben Tag still in die Nacht gleiten lassen sollte. Fred schlenderte langsam, fast bedächtig. Es gab keinen besonderen Anlass, den Friedhof zu besuchen. Keine Beerdigung, keinen Jahrestag, keine Pflicht. Er ging einfach — weil er in letzter Zeit zu oft in seiner Wohnung gehockt hatte und sich dabei ertappte, wie er nach einem Schatten suchte, der nicht der seine war.
Vielleicht lag es an der plötzlichen Stille in seinem Leben. Vielleicht an dem dumpfen Gefühl in seiner Brust, das seit Wochen kam und ging wie ein streunender Hund, der etwas wollte, aber nicht verriet, was. Simmering war nicht schön. Simmering war ehrlich. Und diese Ehrlichkeit mochte Fred. Der Friedhof war riesig, ein Königreich aus Stein und Grün. Jedes Mal, wenn er die schweren Tore durchschritt, fühlte er sich, als betrete er eine andere Stadt — eine Stadt, die nie laut wurde, nie forderte, nie drängte.
Er mochte das.
Nach einer Weile blieb er stehen. Nicht aus Müdigkeit, sondern weil etwas seinen Blick fesselte: eine Parkbank, alt, dunkelgrün gestrichen, mit abgeblätterter Farbe an den Armlehnen. Auf der Bank saß ein Mann. Ein Fremder. Schlank, blass, in einem braunen Mantel, der schlicht war und doch zeitlos wirkte — als stamme er aus einem längst vergangenen Jahrzehnt.
Der Mann hielt den Kopf leicht gesenkt, als trauere er um jemanden, den er nicht vergessen konnte. Fred wollte eigentlich weitergehen. Er suchte ungern ungefragt Gesellschaft. Doch etwas an dem Mann hielt ihn zurück — vielleicht die gefalteten Hände, vielleicht der stille Ernst, der ihn umgab. Es war, als zöge ihn ein unsichtbarer Magnet, dem er sich nicht entziehen konnte.
Fred setzte sich. Nicht zu nah, nicht zu fern. Genau in die Mitte zwischen Nähe und Distanz, zwischen Anteilnahme und Fremdheit. Zunächst schwiegen beide. Dann drehte der Fremde leicht den Kopf und musterte ihn. Seine Augen waren grau – nicht wie der Himmel, sondern wie kaltes Wasser. Scharf, klar, aber rastlos.
„Ein stiller Tag“, sagte der Fremde.
„Ja“, erwiderte Fred.
Schweigen. Der Wind trieb trockene Blätter über den Weg.
„Ich kenne Sie“, sagte der Mann plötzlich.
Fred zog die Stirn kraus. „Das glaube ich nicht. “
„Doch“, entgegnete der Mann ruhig. „Aber nicht so, wie Sie denken. “
Sätze wie dieser waren der Moment, in dem man normalerweise aufstand und ging. Doch Fred blieb sitzen. Vielleicht, weil in der Stimme des Mannes nichts Verrücktes lag – nur Traurigkeit. Tiefe Traurigkeit. Der Mann holte Luft, als müsse er Mut fassen.
„Es tut mir leid“, sagte er schließlich. „Ich weiß, dass Sie es nicht wissen. Deshalb sage ich es Ihnen. Auch wenn es für Sie verrückt klingen mag. “
Fred spürte, wie die Luft um sie schwerer wurde.
„Sie sind schwer krank. “
Die Worte trafen ihn nicht wie ein Hammerschlag. Sie trafen ihn leise, wie ein feiner Riss in einer Scheibe, der längst da war, nur nie beachtet wurde.
„Was? “, stieß Fred hervor, irgendwo zwischen Lachen und Schock.
„Sie sollten etwas dagegen tun. “
Fred schüttelte den Kopf. „Wer sind Sie? Ein Arzt? Ein…“ Er hielt inne. „Ein Spinner? “
Der Mann lächelte traurig. „Ein Arzt war ich. Vor vielen Jahren. “
„Und jetzt? “
„Jetzt sage ich nur noch, was gesagt werden muss. “
Der Wind wurde kälter. Fred zog den Mantel enger um sich.
„Was soll das? Sie kennen mich doch gar nicht. Woher wollen Sie wissen, ob ich krank bin? “
Der Mann sah ihn an, sein Blick so ernst, dass Fred unwillkürlich spürte, er dürfe das Gespräch nicht ins Lächerliche ziehen.
„Sie wachen nachts auf“, sagte der Fremde ruhig. „Weil Sie schlecht Luft bekommen. Sie ignorieren es. Sie reden sich ein, es sei Stress, Müdigkeit, das Wetter. Manchmal spüren Sie Druck in der Brust. Einen Schmerz, der nicht wehtut, aber da ist. Sie kennen ihn. “
Fred erstarrte. Der Friedhof, die Bäume, die Wege – alles schien für einen Moment stillzustehen.
„Woher…? “, setzte er an, doch der Mann hob die Hand.
„Es spielt keine Rolle, woher ich es weiß. Wichtig ist nur, was Sie jetzt tun. “
Fred schwieg.
„Wie heißen Sie? “, fragte er schließlich.
„Nennen Sie mich Paul. “
„Paul“, wiederholte Fred langsam. „Und… warum sagen Sie mir das? “
Paul schloss die Augen für einen Augenblick. „Weil ich einmal jemanden wie Sie kannte. Auch er ignorierte Warnungen. Auch er glaubte, er hätte Zeit. Doch die Zeit hatte ihn. “
Der alte Friedhof wirkte plötzlich grenzenlos.
„War es ein Freund? “, fragte Fred.
Paul nickte kaum sichtbar. „Mehr als das. Es war mein Bruder. “
Er verschränkte die Hände, als müsste er sie bändigen, damit sie nicht zitterten.
„Er war vier Jahre jünger als ich. Die ersten Anzeichen seiner Krankheit überhörte er – wie so viele. Immer gab es Wichtigeres: Arbeit, Termine, Kleinigkeiten, die am Ende des Lebens nicht einmal mehr einen Gedanken wert sind. “
Ein schwaches Lächeln glitt über sein Gesicht.
„Eines Tages war es zu spät. “
Fred schluckte.
„Das tut mir leid“, sagte er leise.
„Mir auch“, erwiderte Paul. „Aber das ändert nichts. “
Nach einer Weile fragte Fred: „Glauben Sie, ich bin… wie er? “
Paul musterte ihn lange, als suche er etwas in seinem Inneren.
„Sie tragen dieselben Zeichen“, sagte er schließlich. „Und dieselbe Angst. “
Fred ballte unwillkürlich die Hände. „Ich habe keine Angst. “
„Doch“, entgegnete Paul. „Sie haben Angst. Aber nicht vor der Krankheit. Sie fürchten, sich selbst in die Augen zu sehen. Das ist die schwerste Angst. “
Fred wollte widersprechen, doch die Worte blieben aus. Er wusste wirklich, dass der Mann Recht hatte. Seit Wochen spürte er etwas, das er nicht benennen wollte. Seit Monaten schob er Arztbesuche vor sich her, redete sich ein, es werde schon vergehen.
Es vergeht nie.
Aber Paul sprach es nicht aus. Er musste es nicht.
„Warum heute? Warum hier? “, fragte Fred.
„Weil Sie hierhergekommen sind“, sagte Paul. „Und weil manche Gespräche nur an bestimmten Orten möglich sind. “
Fred ließ den Blick über den Friedhof schweifen. Stein. Gras. Stille.
„Glauben Sie an Schicksal? “, fragte er.
„Nein“, sagte Paul. „Aber ich glaube, dass Menschen einander finden, wenn sie es am dringendsten brauchen. “
Fred holte tief Luft.
„Und was soll ich jetzt tun? Einfach zum Arzt gehen und sagen: ‚Ein Mann vom Friedhof meint, ich sei krank‘? “
Paul lächelte. „Wenn Sie das wollen, ja. Oder Sie gehen, weil Sie längst spüren, dass etwas nicht stimmt. Ich gebe nur den Anstoß. “
„Mehr nicht? “
„Mehr kann ich nicht. “
Es klang wie Bedauern.
„Was … was glauben Sie, habe ich? “
Die Frage war kaum mehr als ein Flüstern.
Paul schüttelte den Kopf, langsam und bestimmt. „Das werde ich nicht sagen. Ich bin kein Arzt mehr. Und ich will Ihnen keine Angst machen. Aber eines sage ich Ihnen: Sie haben Zeit – wenn Sie sie nutzen. “
Fred schwieg, ließ die Worte wirken. Dann fragte er leise: „Und wenn nicht? “
Paul hielt seinem Blick stand, lange und ernst. „Dann sitzen Sie in ein paar Monaten vielleicht wieder hier. Nur nicht mehr auf dieser Bank. “
Er wies auf die Gräber.
Fred fröstelte. Ein Schauer kroch ihm die Wirbelsäule hinauf und lief über die Arme.
Der Wind frischte auf. Erste Regentropfen fielen. Paul stand auf.
„Gehen Sie heute noch zum Arzt. Oder morgen. Aber gehen Sie. “
„Werde ich … werde ich Sie wiedersehen? “, fragte Fred.
Paul lächelte traurig. „Nein. “
„Wohin gehen Sie? “
„Dorthin, wo man mich braucht. “
Fred wollte etwas sagen, doch ein plötzlicher Windstoß wirbelte Blätter zwischen sie. Für einen Moment wandte er den Blick ab — als er wieder hinsah, war Paul schon ein paar Schritte entfernt. Zwischen den alten Rotbuchen, die sich wie stumme Wächter über den Weg neigten, verschwand er langsam.
Er drehte sich nicht mehr um.
Fred blieb lange auf der Bank sitzen. Die Worte klangen in ihm nach, schwer, dunkel, eindringlich. Und doch spürte er etwas anderes — einen seltsamen Frieden, als hätte jemand eine Last ausgesprochen, die er selbst nicht fassen konnte.
Die Dunkelheit senkte sich. Die Laternen am Weg flammten auf.
Schließlich stand Fred auf.
Nicht weil er wollte – sondern weil er musste.
Am Friedhofstor hielt er kurz inne, dachte nach und ging dann zur Telefonzelle. Dort wählte er eine Nummer, die er seit Monaten gemieden hatte: die seines Hausarztes.
„Ordination Dr. Leitner, bitte? “
„Ja“, sagte Fred. Seine Stimme klang fremd. „Ich… ich brauche einen Termin. Heute noch, wenn es geht. “
In dieser Nacht fand Fred kaum Schlaf. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, tauchte der Mann wieder vor ihm auf: Paul, im braunen Mantel, mit traurigen Augen und Worten, die wie kalte Finger in Freds Brust griffen.
„Sie haben Zeit – wenn Sie sie nutzen. “
Diese Worte ließen sich nicht verdrängen.
Als er gegen vier Uhr morgens aufwachte, schnürte ihm wieder die Enge die Brust. Sein Atem ging schwer. Dieses dumpfe Gefühl war zurück. Er setzte sich auf und wartete, bis es nachließ. Erst dann stand er auf, trank ein Glas Wasser und trat ans Fenster. Es regnete. Der Himmel war schwarz, die Laternen warfen trübes Licht auf den nassen Asphalt. Fred dachte an Paul. Und an dessen Worte. Er spürte, dass dieser Tag etwas verändern würde.
In Dr. Leitners Ordination herrschte Stille. Zu viel Stille. Die Luft roch nach Desinfektionsmittel und erinnerte Fred an Krankenhausflure. Er fühlte sich fehl am Platz, als würde er sich in ein Gebäude schleichen, das nicht für ihn bestimmt war. Dr. Leitner kam ihm im weißen Kittel entgegen, das Gesicht freundlich, aber aufmerksam.
„Herr Moser? Was führt Sie zu mir? “
Fred setzte sich. „Ich habe… Atemprobleme. Seit Wochen. “
Der Arzt zog die Stirn kraus. „Und warum kommen Sie erst jetzt? Warum haben Sie nicht früher etwas gesagt? “
Fred zögerte. Sollte er die Wahrheit sagen? Dass ein Fremder ihn vor einer Krankheit gewarnt hatte? Dass dieser Mann Dinge wusste, die er unmöglich wissen konnte?
Am Ende sagte er nur: „Ich dachte, es geht von selbst weg. “
Dr. Leitner wirkte nicht überrascht. Die meisten Patienten sagen so etwas. Nach Blutdruckmessen, EKG, Abhören, Tests und Fragen wurde der Arzt plötzlich still. Eine Stille, die Freds Magen zusammenzog.
„Ich möchte sicherheitshalber ein Röntgenbild machen“, sagte er schließlich. „Ich will nichts übersehen. “
„Ist… ist es etwas Ernstes? “, fragte Fred.
Dr. Leitner zögerte. „Lassen Sie uns erst die Bilder ansehen. “
Diese Antwort beruhigt nie. Nie.
Die Radiologie war überfüllt, doch Fred nahm es nicht wahr. Keine Stimmen drangen zu ihm, keine Menschen fielen ihm auf. Alles wirkte fern, als trenne ihn eine Glasscheibe von der Welt. Während er wartete, schweifte sein Blick immer wieder zu den Fenstern, die auf eine Reihe alter Bäume hinausgingen. Für einen Moment – einen flüchtigen Atemzug – meinte er, einen Mann im braunen Mantel darunter stehen zu sehen. Doch als er genauer hinsah, war da niemand.
„Du wirst verrückt“, dachte Fred.
Vielleicht war er es längst.
Als die Ärztin zurückkam, wirkte sie ernst, aber gefasst. Kein Pokerface, sondern die kontrollierte Ruhe, die man braucht, um täglich solche Nachrichten zu überbringen.
„Herr Moser, wir haben etwas gefunden. “
Das war der Satz, der einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Sie sprach weiter — von Schatten auf der Lunge, möglichen Ursachen, von Dringlichkeit — doch Fred hörte nur Bruchstücke. Alles verschwamm. Später saß er wieder bei Dr. Leitner, der erklärte, dass weitere Untersuchungen und ein stationärer Aufenthalt nötig seien. Fred nickte. Er nickte, bis der Arzt ihm einen Zettel reichte und ihn hinausließ, wie einen Verlierer, der nie vor Gericht stand. Es war spät, als Fred sich auf den Heimweg machte. Dunkel, kühl, der Wind trug feuchte Kälte. Wie von selbst bog er Richtung Friedhof ab, obwohl er eigentlich nach Hause wollte.
Er wusste nicht, warum. Vielleicht suchte er Antworten, vielleicht suchte er Paul.
Der Friedhof war verschlossen, doch an einer Stelle war der Zaun niedrig genug, um hinüberzusteigen. Simmering war keine Festung. Und Fred war kein Einbrecher — nur ein Mann, der herausfinden wollte, ob Wahnsinn oder Schicksal ihn trieb. Er folgte dem Weg, den er am Vortag gegangen war. Die Bäume ragten wie Schattenriesen, das Laub raschelte, und der Nebel lag schwer in der Luft.
Und dann entdeckte er die Bank. Die alte, grüne Bank unter den Rotbuchen. Jemand saß darauf. Fred blieb stehen, sein Herz raste. Langsam, fast wie ferngesteuert, ging er näher. Der Mann auf der Bank trug wieder den braunen Mantel.
„Paul“, flüsterte Fred.
Der Mann hob den Kopf. Sein Blick war warm und traurig, wie ein Licht in einer dunklen Gasse.
„Sie waren beim Arzt“, sagte Paul.
Es klang nicht wie eine Frage.
Fred nickte. „Sie… Sie wussten es. “
Paul senkte den Blick. „Ich wusste genug. “
„Wer sind Sie? “, fragte Fred, seine Stimme schwankte zwischen Wut und Angst. „Wie konnten Sie all das wissen? “
Paul erhob sich langsam.
„Ich bin jemand, der einen Fehler wiedergutmachen will“, sagte er leise. „Den Fehler, meinen eigenen Bruder nicht rechtzeitig gewarnt zu haben. “
Fred schüttelte den Kopf. „Aber das erklärt nicht, woher sie von mir wissen. Sie kennen mich doch gar nicht! “
Paul sah ihn an, so durchdringend, dass Fred sich fühlte, als würde er in die Tiefe gezogen.
„Manchmal erkennt man Dinge, wenn man lange genug zwischen den Lebenden und den Toten wandert. “
Fred hielt den Atem an.
„Sind Sie…? “ Das Wort blieb ihm im Hals stecken.
Paul lächelte — kaum sichtbar, fast ein Hauch von Lächeln.
„Das spielt keine Rolle“, sagte er leise. „Wichtig ist nur, dass Sie leben. “
Er trat einen Schritt zurück. „Ja, Sie sind krank. Aber nicht unheilbar. Nicht jetzt. Nicht, wenn Sie kämpfen. “
Fred spürte, wie Tränen in seinen Augen brannten.
„Werde ich es schaffen? “, fragte er.
Paul trat in den Schatten der Bäume. Im Dunkel schien er fast zu verschwinden.
„Es hängt davon ab, was Sie mit der Zeit anfangen, die Ihnen bleibt. “
„Kommen Sie zurück? “
Paul sah ihn ein letztes Mal an.
„Nein“, sagte er. „Weil Sie mich nicht mehr brauchen. “
Dann ging er. Nicht plötzlich, nicht geheimnisvoll – Schritt für Schritt, bis der Nebel ihn verschluckte, wie ein Traum, der im Morgen verblasst. Fred blieb stehen, bis seine Hände froren und seine Knie zitterten. Die Bank hinter ihm war leer. So leer, dass er kurz glaubte, alles nur geträumt zu haben.
Doch das Gespräch mit dem Arzt war echt. Die Diagnose war echt. Die Angst war echt. Und auch der Entschluss, jetzt nicht mehr zu schweigen, war echt. Er machte sich auf den Weg. Nicht nach Hause – ins Krankenhaus. Für die nächsten Untersuchungen, für das, was kommen musste. Unterwegs spürte er etwas Merkwürdiges. Keine Hoffnung. Aber etwas Ähnliches. Etwas wie… Richtung.
Die nächsten Tage verschwammen für Fred zu einem bleichen Strom aus Untersuchungen, Geräuschen, Stimmen und endlosem Warten. Krankenhäuser folgten ihrer eigenen Zeit. Eine Stunde dehnte sich zu einem Tag, ein Tag zu einer Woche. Man schob ihn von Raum zu Raum, hängte ihm Elektroden an, nahm Blut ab, führte Tests durch, deren Namen er kaum behielt. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ ihn nicht los. Nicht von Ärzten oder Schwestern, sondern aus einer anderen Richtung – als würde jemand darauf achten, dass er den vorbestimmten Weg ging.
Jede Nacht träumte er von Paul. Manchmal saß Paul nur da, still, wie auf der Bank. In anderen Träumen sprach er Sätze, die Fred nicht verstand, die sich aber wie Knoten in ihm festsetzten. Doch es fühlte sich nie wie ein Albtraum an. Eher wie ein Ruf. Am vierten Tag setzte sich Dr. Leitner zu ihm. Dieses Mal ohne Aktenmappe, ohne Eile. Ein Gespräch, das einen Rahmen hatte – und einen Schlusspunkt verlangte.
„Herr Moser“, begann er, „wir wissen jetzt, was Ihnen fehlt. “
Fred spürte, wie die Luft um ihn schwerer wurde.
„Es ist eine chronische Herzmuskelerkrankung. Nicht akut lebensbedrohlich, aber gefährlich, wenn man sie ignoriert. Sie erklärt Ihre Atemnot, den Druck in der Brust, die Müdigkeit – und warum es schlimmer geworden ist. “
Fred schloss die Augen. Nicht aus Überraschung, sondern weil er diese Worte längst kannte. Paul hatte es gewusst, noch bevor die Ärzte es herausfanden.
„Kann man etwas tun? “, fragte Fred leise.
„Ja“, sagte Dr. Leitner. „Eine Menge. Medikamente, ein angepasster Lebensstil, regelmäßige Kontrollen. Vielleicht auch Eingriffe, falls nötig. Aber Sie sind rechtzeitig gekommen. Ihre Chancen stehen gut. “
Fred schlug die Augen auf. Gerade noch rechtzeitig. Es hätte genauso gut zu spät sein können.
„Hätten Sie länger gezögert, wäre alles anders ausgegangen“, sagte der Arzt offen.
Fred nickte schweigend. Er wusste genau, wem er das verdankte.
Später am Abend kehrte Ruhe ein. Gedämpfte Geräusche schwebten über den Stationsflur, doch Fred fühlte sich plötzlich seltsam allein. Nicht einsam, sondern getroffen von der Erkenntnis, dass sein Leben eine neue Richtung genommen hatte. Er sah zum Fenster. Die Dunkelheit hatte die Welt verschluckt, nur ein paar Lichter flimmerten im Innenhof des Krankenhauses. Und dann entdeckte er ihn: Paul. Nicht direkt unter dem Fenster, sondern etwas abseits. Der Wind zupfte an seinem Mantel, doch Paul stand reglos.
Fred sprang auf, stolperte fast über das Bett und presste die Hände gegen die Fensterscheibe.
„Paul! “, rief er, obwohl der andere ihn unmöglich hören konnte.
Doch Paul hob den Kopf, sah ihn an und lächelte. Ein kurzes, flüchtiges Lächeln. Ein Abschied.
„Warte! “, rief Fred. „Bitte! “
Paul schüttelte nur leicht den Kopf, hob die Hand, langsam, fast zärtlich. Dann drehte er sich um und ging. Nicht hastig, nicht fliehend. Wie jemand, der mit sich im Reinen ist.
Fred lehnte die Stirn gegen das kalte Glas. Vielleicht hätte er weinen können, doch keine Träne kam. Seine Brust war erfüllt von Wärme und Schmerz zugleich — ein Gefühl, das sich nicht benennen ließ.
Am nächsten Morgen stand sein Entschluss fest. Noch vor dem Frühstück bat er eine Krankenschwester um Ausgang. Sein Zustand war stabil genug, also durfte er hinaus. Er ging direkt zum Hintereingang des Krankenhauses, dorthin, wo er Paul zuletzt gesehen hatte.
Doch da war nichts. Nur nasse Erde, ein paar Bäume und eine Bank aus hellem Holz. Fred wollte nicht aufgeben. Er fragte eine Schwester, einen Pfleger, den Mann an der Pforte, eine Reinigungskraft. Niemand hatte einen Mann im braunen Mantel gesehen. Niemand.
„Vielleicht ein Besucher? “, fragte die Schwester.
„Nein“, sagte Fred. „Kein Besucher. “
Besucher lösen sich nicht in Luft auf. Sie hinterlassen Spuren. Man hätte ihn bemerkt.
„Haben Sie ihn geträumt? “, fragte sie leise.
Fred schüttelte den Kopf.
„Nein. Ich habe ihn gesehen. “
Ein paar Tage später entließen sie ihn — mit Medikamenten, einem Therapieplan und Terminen für Nachuntersuchungen. Seine Schritte wurden bedächtiger, sein Atem ruhiger. Sein Herz war nicht geheilt, aber unter Kontrolle. Sein erster Weg führte ihn nach Simmering. Wieder zum Friedhof. Wieder zur Bank.
Diesmal war sie leer. Das Laub über ihm bewegte sich im späten Licht wie ein schwerer Vorhang. Fred setzte sich. Der Wind war kühl, aber nicht feindlich. Er wartete eine Stunde, zwei. Die Sonne sank, doch niemand kam. Als er schließlich aufstehen wollte, fiel sein Blick auf den Boden: ein Blatt lag vor seinen Füßen. Ein gewöhnliches Herbstblatt, nichts Besonderes. Doch auf der Oberseite zog sich ein dünner, blasser Strich entlang — als hätte jemand mit dem Fingernagel eine Linie hinein geritzt. Eine Linie, auffallend gerade. Zu gerade für Zufall.
Fred bückte sich, hob es auf. Das Blatt fühlte sich kalt an. Und plötzlich wusste er es — ohne Erklärung, ohne Logik:
Paul war nie ein gewöhnlicher Mann. Vielleicht war er eine Erinnerung, die Gestalt angenommen hatte. Vielleicht der Schatten eines Toten, der Frieden suchte. Vielleicht ein Mahner zwischen den Welten. Vielleicht etwas, das man besser nicht benannte. Doch er war real genug, um Freds Leben zu retten.
Fred verließ den Friedhof mit dem Blatt in der Hand. Antworten hatte er keine, nur eine Richtung. Und ein Gefühl, das er lange nicht gekannt hatte:
Er wollte leben. Er würde kämpfen. Für sich selbst. Und für einen Mann, der zwischen den Gräbern gesessen und ihm eine Wahrheit gesagt hatte, die sonst niemand auszusprechen gewagt hätte.
Als Fred den Friedhof verließ, fiel ein letzter Lichtstrahl auf die Bank. Wer nicht genau hinsah, hätte meinen können, dort säße jemand – ein Mann im braunen Mantel, still, wachsam, zufrieden.
Doch ein Windstoß kam, und der Schatten löste sich auf.
Paul – der Mann im braunen Mantel.
Paul kam im Frühjahr 1948 in einem kleinen Wiener Gemeindebau am Rand von Simmering zur Welt. Seine Familie war weder reich noch arm. Die Mutter nähte, der Vater fuhr Straßenbahn. Die Wohnung war eng, die Wände dünn, die Nächte laut — doch Paul erinnerte sich später vor allem an die Wärme in den kleinen Zimmern.
Er war ein stilles Kind, das lieber zeichnete als Fußball spielte, lieber beobachtete als sprach. Die Nachbarn sagten oft, Paul habe „alte Augen“ — einen Blick, der zu viel sah, zu viel begriff. Mit sieben bekam er einen Bruder: Tim. Von da an war Paul nicht mehr nur Kind, sondern Beschützer.
Tim war Pauls Gegenteil. Laut, wild, neugierig — ein Wirbelwind mit blonden Haaren und einem Lachen, das selbst den trübsten Tag erhellte. Während Paul die Stille suchte, suchte Tim das Abenteuer. Paul liebte Bücher, Tim liebte Fußballplätze, Werkzeuge, Bäume, Dächer, von denen man springen konnte — kurz: alles Gefährliche. Doch sie waren unzertrennlich. Wenn Tim Unsinn machte, zog Paul ihn heraus. Wenn Paul in seine stille Welt abtauchte, riss Tim ihn heraus. Viele Jahre lang waren sie zwei Hälften eines Ganzen.
Als Paul sechzehn war, starb ihre Mutter plötzlich an einem Schlaganfall. Der Abend begann wie jeder andere: Sie saßen beim Essen, Tim erzählte von der Schule, Paul las still ein Buch. Dann brach ihre Mutter zusammen, als hätte jemand ihr den Atem geraubt.
Der Schock veränderte Paul. Er wollte begreifen, wie ein Mensch so plötzlich verschwinden kann. Er schwor sich, nie wieder hilflos zuzusehen, wenn jemand stirbt, weil Warnzeichen übersehen wurden. Also beschloss er, Arzt zu werden. Kein romantischer Traum, sondern ein Akt der Selbstverteidigung gegen die Unberechenbarkeit des Lebens.
Während Paul studierte, suchte Tim seinen eigenen Weg. Er arbeitete als Mechaniker, wechselte Jobs, verliebte sich, trennte sich, lebte spontan, ohne Plan, aber mit viel Herz. Die Brüder liebten sich weiterhin, doch die Nähe schwand. Paul wurde ernster, Tim blieb der Unbekümmerte. Sie stritten manchmal, sahen sich wochenlang nicht. Doch ein Anruf hätte genügt, und der andere wäre sofort da gewesen.
Tim war 28, als der Husten begann. Paul fiel auf, dass sein Bruder blass wirkte, schnell außer Atem geriet, oft müde war. Als Arzt sprach er ihn darauf an – Tim winkte ab.
„Stress“, sagte er. „Schlecht geschlafen. Wetter. Irgendwas halt. “
Paul drängte ihn, sich untersuchen zu lassen, doch Tim wehrte ab.
Da begann es in Paul zu bröckeln:
Er sah die Warnzeichen, doch er brachte seinen eigenen Bruder nicht dazu, zu handeln. Die Krankheit kroch in Tims Lunge wie ein stiller Feind. Sie hätte behandelbar sein können – doch sie blieb unbeachtet.
An einem regnerischen Novemberabend kam der Anruf. Tim war im Wohnzimmer zusammengebrochen, vor dem laufenden Fernseher. Die Diagnose kam zu spät: fortgeschrittene Herz-Lungen-Insuffizienz, ausgelöst durch eine unerkannte, unbehandelte Krankheit.
Die Ärzte kämpften, Paul betete, Tim starb. Er war 29. Paul 33. Der Tod seines Bruders brach etwas in ihm.
Paul gab den Beruf auf – aber nicht sofort.
Er arbeitete weiter, doch ohne Feuer. Ohne Glauben an die Welt. Ohne Glauben an sich selbst. Nach ein paar Monaten kündigte er. Er machte sich Vorwürfe, weil er Arzt war. Weil er es hätte merken müssen. Weil er Tim hätte retten müssen. Es war unvernünftig — aber Schmerz folgt keiner Logik. Ziellos streifte er durch die Stadt, durch die Orte, an denen sie als Kinder gespielt hatten. Er saß stundenlang an den Gräbern, stundenlang auf Parkbänken. Er sprach mit niemandem. Jeden Tag zog er sich weiter zurück — wie jemand, der nicht mehr wusste, wohin er gehörte.
Die letzten Jahre seines Lebens verliefen still. Niemand weiß genau, wie er starb. Manche meinen, er sei krank gewesen und habe es ignoriert — wie Tim. Andere glauben, er sei eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.
Fest steht: Er starb allein, mit 41. Man begrub ihn in Simmering, nahe den alten Rotbuchen. Die Welt nahm sein Verschwinden kaum wahr. Nur ein schlichter, unauffälliger Grabstein erinnerte an ihn. Doch sein Geist — oder das, was von ihm blieb — fand keinen Frieden. Nicht, solange es Menschen wie Tim gab. Nicht, solange er noch warnen musste. Nicht, solange er eine Schuld spürte, die nie die seine war.
Paul zeigte sich selten, nur manchmal, nur bei bestimmten Menschen. Bei denen, die dieselben Narben trugen wie Tim. Die dieselbe Angst in sich spürten. Die verloren am Rand der Welt saßen. Manche sahen ihn, andere fühlten nur seine Nähe, wieder andere hörten seine Stimme im Traum. Doch fast niemand verstand ihn. Bis Fred kam.
Am häufigsten erschien Paul auf der Bank im Simmeringer Friedhof. Dort hatte er unzählige Stunden verbracht – als Lebender und als etwas anderes. Diese Bank war sein Tor zur Welt der Lebenden. Sein letzter Halt, sein letzter Versuch. Und als Fred sich dort niederließ, erkannte Paul sofort, was der Mann selbst nicht wusste:
Die gleiche Atemnot. Der gleiche Druck in der Brust. Der gleiche Weg ins Unheil. Und die gleiche Verdrängung wie damals bei Tim. Alles wiederholte sich, doch diesmal hatte Paul eine zweite Chance. Als er Fred warnte, war er kein Geist, kein Engel, kein Spuk. Er war ein Bruder, der einen Fehler nie wieder gutmachen konnte – außer jetzt, durch einen Fremden. Als er Fred später im Krankenhaus sah, wusste er:
Seine Aufgabe war erfüllt. Dieses Mal nicht zu spät. Dieses Mal mit Sinn. Und so verschwand er. Nicht, weil er nicht mehr war. Sondern weil er frei war.
Schlusswort
Wer inneren Frieden sucht und findet, schenkt auch der Seele Ruhe.
Kurzgeschichte aus Simmering
Andreas Kmeth
(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht)