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Der Sündennehmer

Die Geschichte über eine außergewöhnliche Begabung.

Am fünften Mai 1925 bewarb ich mich, Max Nogger, als Bestattungsmitarbeiter bei Direktor Helmut Becher direkt am Krematorium Simmering. Mein Onkel Paul, der Bruder meines verstorbenen Vaters, vermittelte mich. Er hatte meinem Vater versprochen, sich um mich zu kümmern. Da er selbst am Friedhof arbeitete, nutzte Paul seine Verbindungen. Gerade war eine Stelle am Urnenfriedhof frei geworden, die er mir unbedingt sichern wollte. Beim Vorstellungsgespräch fiel dem Direktor meine nachdenkliche Art auf. Doch nach einem längeren Gespräch entschied sich Direktor Becher, mir eine Chance zu geben, mein Können zu beweisen.

„Es ist ein anspruchsvoller Beruf, enttäuschen Sie mich nicht, Herr Nogger. “

„Das werde ich nicht, Herr Direktor, das verspreche ich Ihnen. Im Gegenteil, ich werde Ihnen beweisen, dass Sie sich auf mich verlassen können. “

Ich erhielt die offene Stelle unter der Bedingung, eine längere Probezeit zu akzeptieren. Nun lag es an mir, diese Chance zu nutzen und das Misstrauen meines zukünftigen Vorgesetzten zu zerstreuen. Wenige Tage später begann ich mit meiner Arbeit auf dem Urnenfriedhof. Ich fand mich schnell ein und zeigte vollen Einsatz. Dabei verschwand allmählich der Eindruck der Trübsinnigkeit, den ich oft ausstrahlte. Täglich bereitete ich Urnen vor, legte Gräber an und gestaltete Trauerfeiern mit. Die Trauer, die meine Arbeit mit sich brachte, verarbeitete ich auf meine eigene Weise. Meine Kollegen, die mich einarbeiteten, waren sehr zufrieden mit mir, und selbst Direktor Becher zeigte sich tief beeindruckt von meiner Leistung.

Er erkannte mein großes Engagement für das Gemeinwohl. Doch niemand ahnte, dass mich ein unergründliches Geheimnis belastete. Ich ließ mir nichts anmerken und verbarg es geschickt. Wie hätte ich jemandem erzählen können, dass ich auf dem Urnenfriedhof etwas Unheimliches sah? Aus Angst, man würde mir nicht glauben, schwieg ich. Niemand sollte je von dieser unglaublichen Begegnung erfahren, schwor ich mir. Vermutlich führte das zu meiner chronischen Schlaflosigkeit, die weit über normale Schlafprobleme hinausging.

Ich schlief schlecht ein und durch, wachte meist früh auf. Wenn ich endlich schlief, fühlte ich mich nie erholt. Ich griff zu Heilpflanzen mit schlaffördernder Wirkung und pflanzlichen Mitteln wie Baldrian und Passionsblume. Doch nichts half. Also stellte ich mich dem Unfassbaren, um meinen Schlaf zurückzugewinnen. Fast täglich erlebte ich eine rätselhafte Begegnung. Deshalb beobachtete ich die Stellen am Friedhof, wo es geschah. Doch seit ich mich der Situation stellen will, bleibt sie aus. Der Gedanke, alles nur zu halluzinieren, nistete sich in meinem Kopf ein. Ich fürchtete, den Verstand zu verlieren. „Was ist nur los mit mir? Ich kann nicht mehr klar denken. “ War es eine Halluzination? Ich begreife es nicht, es fühlt sich an, als verlöre ich den Verstand.

Die Sorgen zehrten an meinen körperlichen und seelischen Kräften. Ich war ausgelaugt, völlig erschöpft. Nur ein unbekanntes Gefühl der Angst blieb in mir. Plötzlich erblickte ich das Unheimliche wieder, diesmal nicht verschwommen, sondern in einem hellen, klaren Schein. Es war eine durchsichtige, schlanke Gestalt in weiblicher Form, die lautlos und vorsichtig schwebte. Mit weit aufgerissenen Augen murmelte ich:
„Oh allmächtiger, ist das eine verstorbene Seele? “ Man hört oft von ihnen, doch kenne ich niemanden, der je eine sah. Meine Kollegen scheinen die Erscheinung nicht zu bemerken, obwohl sie näher dran sind als ich. Das verstehe ich nicht. Sie ist für mich kaum zu übersehen. Oh mein Gott, sehe nur ich sie? Die Angst kriecht in mir hoch, während sich die Nervosität rasend schnell ausbreitet.

Ich stand wie erstarrt, unfähig, mich zu bewegen. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter. Sollte das alles wirklich geschehen, kann es kein Zufall sein. Vielleicht ist es eine unerkannte Gabe. Doch wie gehe ich damit um, wenn es wahr ist?

Kaum wandte ich den Blick ab, erschien sie plötzlich hinter mir. Der Schreck ließ mich in die Knie sinken. Meine Starre löste sich, doch die Angst blieb.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe bemerkt, dass du mich gesehen hast. Weißt du, wer oder was ich bin? “

„Nein, ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich große Angst vor dir habe. “ Gedanken rasen durch meinen Kopf, voller Schrecken. Übelkeit, Zittern, Atemnot und ein Druck in der Brust übermannen mich. Diese Hilflosigkeit versetzt mich in Panik; ich fürchte, gleich ohnmächtig zu werden.

„Beruhige dich, Max. Ich tue dir nichts Böses, im Gegenteil, ich freue mich, dich gefunden zu haben. “
„Wow, woher kennst du meinen Namen? “
„Mir wurden die Namen aller Mitarbeiter hier am Urnenfriedhof zugeflüstert, auch deiner. “
„Wer flüstert dir unsere Namen zu und warum? “
„Wer es war, kann ich dir noch nicht sagen, aber den Grund kenne ich. Du bist ein Sin Taker, genau wie ich. Deshalb teilen wir unser Schicksal. Ich lebe nicht mehr unter den Menschen, aber du. Seit einigen Jahren suche ich dich. Du bist meine Rettung, meine Seele kann erst weiterziehen, wenn ich meinen Nachfolger finde. Du kannst mich von meiner Bindung befreien und mir endlich die ersehnte Ruhe schenken. “
„Ich verstehe nicht, was du meinst. Da muss eine Verwechslung vorliegen. Ich bin nicht der, den du suchst, oder der, den du glaubst gefunden zu haben. Doch meine Neugier auf den, den du suchst, ist jetzt groß. Was ist ein Sin Taker? Ich habe noch nie davon gehört. Deine Worte sind ein Rätsel für mich.“

Ein Sin Taker, ein Sündennehmer, befreit lebende und verstorbene Seelen von ihren Sünden. Ein Ritual ermöglicht dies ohne kirchliche Beteiligung. Dabei überträgt der Sündennehmer alle Sünden auf sich.

Das Ritual beginnt, indem er seine linke Hand auf die Stirn der betroffenen Person oder der verstorbenen Seele legt. Er spricht laut ein Gebet:
„Vergib ihnen ihre Schuld, ihre Sünden, ihre Fehler. Übergib sie mir, einem Sündennehmer, der dir dient. Du bist die Ewigkeit, nimm mich auf mit all den Sünden und halte mich fest in deiner Gnade. Heiliger, bitte für uns Sünder in dieser schweren Stunde. So sei es, so geschehe es. “

Neid, Völlerei, Habgier, Wollust, Hochmut, Trägheit und Zorn – die Sieben Todsünden sind bekannt und weit verbreitet. Sie stehen für Motive und Verhaltensweisen, die viele im Alltag begleiten, aber moralisch verurteilt werden. Die tatsächlichen Sünden wie Lügen, Fluchen und Stehlen begehen wir täglich. Doch nicht jeder sieht die Dringlichkeit, sie loszuwerden. Diese Entscheidung liegt allein beim Sündennehmer. Er nimmt die Sünden auf und befreit die anderen. Doch diese Sünden plagen ihn mit Albträumen. Je mehr er aufnimmt, desto schlimmer werden seine Träume. Angstzustände und Schlafstörungen folgen. Er muss die Sünden tragen und versuchen, sie seelisch zu heilen. Gelingt ihm das nicht, droht ihm der Untergang. Für die, denen er die Sünden abnimmt, bedeutet es Erlösung und Befreiung von seelischem Schmerz.

Max, du bist ein Sündennehmer, sonst hättest du mich nicht sehen können. Nur ein Sündennehmer erkennt einen verstorbenen Sündennehmer. Füge dich deinem Schicksal. Höhere Mächte bestimmen die Ereignisse in deinem Leben. Wehre dich nicht, du kannst es nicht ändern. Je früher du es akzeptierst, desto leichter erlöst du andere von ihren Sünden, so wie mich. Max, du musst mir meine Sünden abnehmen.

„Wie kann das sein? Ich bin weder Priester noch Mönch. “ Die Kirche spielte nie eine Rolle in meinem Leben. Nach dem Tod meines Vaters verlor ich meinen Glauben an das Heilige. Meines Wissens ist das ihre Angelegenheit, nicht meine. Wer bin ich, um so eine verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen?

„Max, du musst nichts von all dem sein, und doch bist du auserwählt. “ Warum die höheren Mächte gerade dich wählten, bleibt ihr Geheimnis. Ich begegnete im Laufe der Zeit einigen Sündennehmern, doch keiner von uns, mich eingeschlossen, verstand, warum wir es wurden. Ich selbst war eine einfache Hausfrau, nicht mehr und nicht weniger. Sehr jung wurde ich Witwe, als mein Mann bei einem Arbeitsunfall starb. Damals ging es mir schlecht, und ich dachte sogar daran, mir das Leben zu nehmen. Da half mir meine ältere Cousine, die damals Nonne war. Sie gehörte zum Orden der Salesianerinnen im Kloster der H.

Nach Rücksprache mit ihren Vorgesetzten nahmen sie mich auf, unter der Bedingung absoluten Stillschweigens. Fünf Jahre lebte ich mit ihren Regeln: Armut, Gehorsam und Keuschheit. Danach kehrte ich in mein altes Leben zurück und mischte mich wieder unter meinesgleichen. Eines Sommerabends wurde ich Zeuge eines Verkehrsunfalls. Sofort eilte ich dem Verletzten zu Hilfe, einem älteren Herrn. Er war in schlechtem Zustand, doch er schaffte es, mir ein paar Worte zusagen:
„Ich sehe es in Ihren Augen, Sie sind ein Sündennehmer, genau wie ich. Bitte besuchen Sie mich so schnell wiemöglich im Krankenhaus, in das man mich bringt. Sie müssen mir meine Sünden abnehmen, bevor ich sterbe. “
Mehr konnte er nicht sagen, er verlor das Bewusstsein. Der Rettungsfahrer nannte mir das Krankenhaus, in das er eingeliefert wird. Die ganze Nacht fragte ich mich, was er wohl damit meinte.

Der blutige Zwischenfall und die seltsame Äußerung des älteren Herrn ließen mich nicht los. Am nächsten Morgen fuhr ich ins Spital, um der Sache auf den Grund zu gehen. Als ich sein Zimmer betrat, schlief er tief. Zwei Stunden saß ich an seinem Bett und hielt seine Hände. Dann öffnete er langsam die Augen. Als er mich sah, strahlte Erleichterung in seinen Augen und auf seinem Gesicht. Er sagte:
„Danke fürs Kommen, ich dachte nicht, dass Sie den Mut haben. “

„Doch, den habe ich, obwohl ich verwirrt bin, mein lieber Herr. Ich bin neugierig und bitte Sie, mich aufzuklären. “

Vier Tage lang saß ich stundenlang an seiner Seite. Er erzählte mir alles über sich: wann und wie er erfuhr, dass er ein Sündennehmer ist, wer ihn aufklärte und wie er damit umging. Er berichtete, von wem er erstmals Sünden übernahm und wie es ihn veränderte. Mit bewundernswerter Hingabe schilderte er seine Erlebnisse. Vorsichtig nahm er meine Hände und sprach mir ermutigend zu.

„Ich hoffe, ich habe nichts vergessen. Falls doch, vertraue ich darauf, dass Sie stets das Richtige tun. Oh, meine liebe, letzte und wichtigste Bekanntschaft, es ist soweit. Bitte nehmen Sie mir meine Sünden ab. Meine Zeit ist gekommen, ich muss nun für immer gehen. Doch Ihre herausfordernde Zeit beginnt erst jetzt. Ich danke Ihnen von Herzen für den Mut, den Sie für mich aufbringen. “

„Seine rührenden Worte am Ende stärkten meinen Entschluss ihm gegenüber. “ Mit Tränen in den Augen und herzzerreißendem Schluchzen sagte ich zu ihm: „Nun ist es so weit, mein lieber Herr, ich beginne jetzt mit dem Gebet. “Vorsichtig legte ich meine linke Hand auf seine Stirn und sprach mit zitternden Lippen das Gebet. Trotz seiner schweren Lage strahlte er eine Zufriedenheit aus, die ich nie zuvor gesehen hatte. Nachdem ich ihm seine Sünden vergeben hatte, schloss er für immer die Augen.

Dann begann meine unglaubliche Reise durch die sündhafte Seelenwelt. Ich befreite viele Seelen von ihren Sünden, einige stellten eine echte Herausforderung dar. Doch auch diese schweren Sünden nahm ich auf mich, bis es mich schließlich selbst traf.
Es war ein wunderschöner, heißer Sommertag. Ich besuchte den Urnenfriedhof, das Grab meiner Eltern, wo auch mein verstorbener Mann lag. Meine Eltern waren noch nicht lange tot. Bei jedem Wetter zog es mich dorthin, da ich ihren Tod noch nicht überwunden hatte. An diesem Tag fühlte ich mich morgens unwohl, doch ich ließ mich nicht abhalten. Wie sich später herausstellte, war das mein größter Fehler, den ich bis heute bereue. Ich stand lange ohne Kopfbedeckung in der prallen Sonne. Da ich auch längere Zeit nichts getrunken hatte, wurde mir schwindelig. Plötzlich kamen Schwitzen, Übelkeit, Sehstörungen und Ohrensausen hinzu. All das führte zu einem Kreislaufkollaps. Wegen Sauerstoffmangels verlor ich sofort das Bewusstsein.

In diesem Zustand begann ich zu erbrechen und erstickte daran. Niemand bemerkte es, und so starb ich allein am Grab meiner Familie. Erst am nächsten Morgen fand mich ein Gärtner, der am Nachbargrab arbeiten wollte. Zehn Jahre sind vergangen, seit ich hier auf dem Friedhof verweile. Ich bin gefangen und kann nicht weiterziehen, bis ein Sündennehmer mir meine Sünden abnimmt. Jetzt setze ich meine ganze Hoffnung auf dich, damit ich endlich weiterreisen kann. Wohin auch immer es geht, ich sehne mich danach.

„Tja, das war's, Max. Nun weißt du alles über einen Sündennehmer wie mich.“

„Oh, wie schrecklich. Ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll. “ In diesem Moment bin ich einfach nur sprachlos.

„Das verstehe ich gut. Auch mir fiel es damals schwer, mit der Situation umzugehen. “ Doch du wirst deinen eigenen Weg finden, damit umzugehen.
„Gab es niemanden, der dich in jener Nacht vermisste, wie Familie oder Freunde? “
„Nein, meine Familie war bereits verstorben, und Freunde hatte ich keine. “ Ich widmete mein Leben ganz der Hingabe, Sünden zu nehmen. Es machte mich glücklich, Seelen von ihrer Last zu befreien. Damals erfüllte mich großer Stolz auf diese edlen Taten. Sünden zu nehmen war meine Berufung, die mich stets zufrieden stellte. Eines musst du wissen, Max: Uns Sündennehmern wurde der Segen des Vergebens auferlegt.

„Genau das verunsichert mich: Kann ich dem überhaupt gerecht werden? “ Eine so große Verantwortung habe ich noch nie getragen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto unwohler fühle ich mich. Dir hier und jetzt deine Sünden abzunehmen, verwirrt meinen Verstand noch mehr. Die Vorstellung, dass du danach verschwindest, versetzt mich in eine besorgniserregende Lage. Diese Unsicherheit drückt auf mich, als würde ich gleich zerplatzen. Ich weiß nicht, wie es ohne dich weitergehen soll. Ich kenne nicht einmal deinen Namen.

„Zu Lebzeiten nannte man mich Elsa. Ob ich diesen Namen dort noch tragen darf, wohin es mich zieht, weiß ich nicht. “Du siehst, auch ich weiß nicht, was kommt. Darum wähle den einfachsten Weg, Max: Geh einfach geradeaus, so wie ich es tat.

Nur Mut, du schaffst es wie alle vor dir. Vollziehe dieses Ritual mit mir, ohne viel zu grübeln, und lass geschehen, was danach kommt. Zuvor möchte ich dir danken. Ich weiß nicht, ob mir noch Zeit für den Abschied bleibt, wenn das Ende naht. Ich bin froh, dich gefunden zu haben, und glücklich, dass du mich von dieser Last befreist. Deine sanfte Güte erfüllt mich mit einer Zufriedenheit, die ich seit meinem Tod nicht mehr kannte. Ich hatte keine Erwartungen, doch es noch einmal zu spüren, war wundervoll. Danke, Max. Ich hoffe, ich vergesse dich nie. Und jetzt los, bevor ich noch sentimental werde, falls das überhaupt noch möglich ist.

„Sie kniete vor mir und forderte mich mit einem Blick auf, zu beginnen. “ Lautlos nickte ich. Ich legte meine zitternde linke Hand auf ihre Stirn und sprach das Gebet, trotz Nervosität und Unsicherheit. Konzentriert vermied ich Fehler und beendete das Gebet mit tiefer Stimme. Plötzlich begann sie, sich aufzulösen. In ihren Augen spiegelte sich Zufriedenheit, als sie verschwand. Binnen Minuten war alles vorbei. Elsa löste sich vollständig in Luft auf. Regungslos stand ich da, wie versteinert. Dieses Ereignis zu begreifen und zu verarbeiten, war die größte Herausforderung meines Lebens. Wer so etwas nicht selbst erlebt, kann es nicht wirklich verstehen.

Nach diesem traurigen Erlebnis folgte ich ihren Spuren und wurde der neue Sündennehmer. Allein auf mich gestellt, suchte ich eilig nach denen, die dringend Hilfe brauchten. Glaubt mir, es waren viele. Ob Kinder, Frauen oder Männer –entscheidend war nur, dass ich helfen konnte. Ein Jahrzehnt ist inzwischen vergangen, doch ich bereue keinen einzigen Tag. Im Gegenteil, voller Ehrgeiz kann ich es kaum erwarten, weitere Sünder zu befreien. Hinter jedem steckt eine Geschichte, die oft tief auf mich wirkt. Manchmal so stark, dass sie mich verändert. Wie damals, als ich einen brutalen Raubüberfall direkt vor dem Eingangstor des Urnenfriedhofs, meiner Arbeitsstätte, miterlebte.

An einem stark verregneten Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, erlebte ich etwas Ungewöhnliches. Es war Freitag, der 13., ein Datum, das viele für unheilvoll halten. Bisher hielt ich nichts von diesem Aberglauben, bis ich Zeuge eines brutalen Überfalls wurde. Ohne zu zögern, eilte ich dem Opfer zu Hilfe. Eine zierliche junge Frau konnte dem Angreifer kaum Widerstand leisten. Er ging so brutal vor, dass es schien, als hätte er keine Skrupel, sie zu töten.
"Sie ist viel zu jung zum Sterben, du musst eingreifen, Max", rief ich mir innerlich zu. Entschlossen rannte ich auf den Täter zu und sah, wie in seiner rechten Hand eine Messerklinge aufblitzte. Doch das hielt mich nicht auf. Kurz bevor ich ihn erreichte, sprang ich mit beiden Füßen voran gegen seinen Oberkörper. Mit voller Wucht traf ich ihn, und wir stürzten gemeinsam zu Boden.

Ein heftiger Zweikampf entbrannte zwischen ihm und mir. In der emotionalen Anspannung bemerkte ich nicht, dass er mir das Messer in die Niere stach. Nach einem kurzen, harten Gerangel floh er glücklicherweise. Sofort wandte ich mich der jungen Frau zu und rief:
„Bitte, junge Frau, geht es Ihnen gut? “
Ein kleines Lebenszeichen hätte mich beruhigt. Doch sie antwortete nicht, ihr Körper blieb regungslos. Nervös kroch ich schnell zu ihr. Als ich näher kam, sah ich das Ausmaß ihrer Verletzungen. Er hatte an ihr ein grausames Blutbad angerichtet. Ihr Körper war von tiefen Schnittwunden übersät, blutüberströmt und ohne Lebenszeichen. Ich versuchte, die Blutungen zu stoppen und sie wachzurütteln. Alles, was ich versuchte, scheiterte.
Die Schmerzen wurden unerträglich, der Stich in die Niere war tief. Mit letzter Kraft presste ich mein Hemd auf die stark blutende Wunde, in der Hoffnung, das Bluten zu stoppen. Doch es half nicht, das Blut floss unaufhaltsam weiter. Trotz dieser Belastung kreiste nur ein Gedanke in meinem Kopf: Max, du musst diese Frau retten, selbst wenn es dein Leben kostet. In meiner Hilflosigkeit fiel mir nichts mehr ein. Verzweifelt starrte ich zum Himmel und schrie:
"Oh Mächtiger, hilf mir in dieser dunklen Stunde. Nimm mein Leben, damit sie leben kann. Lass sie statt mir die Last der Sünden tragen. Ich flehe dich an, für all meine guten Taten, lass es geschehen. Diese junge Frau muss weiterleben, sie darf nicht sterben, nicht wegen eines hinterhältigen Überfalls. Das Böse, das dieser Verbrecher ihr angetan hat, darf nicht siegen. Sie trifft keine Schuld, bitte erhöre mich."

Dies war meine letzte Erinnerung an den schrecklichen Überfall, dann wurde es dunkel um mich. Als ich wieder zu mir kam, schwebte meine Seele über meinem Körper, der am Boden lag. Da wusste ich, dass ich nicht mehr lebte. Doch mein Wunsch erfüllte sich: Wie durch ein Wunder überlebte die junge Frau. Die Rettungskräfte retteten sie in letzter Sekunde vor dem Tod. Sie verdankte ihr Leben einem aufmerksamen älteren Herrn, der mit seinem Hund in der Nähe war, die Tat beobachtete und die Rettung einleitete.

Tage später war es so weit: Man beerdigte mich am Urnenfriedhof unter einem großen Baum, der angeblich Macht ausstrahlt. Leider kann ich das nicht mehr spüren. Dennoch bin ich froh, dass alles so endete, wie ich es mir für sie wünschte. Sie heißt Dorothea, was „Geschenk des Allmächtigen“ bedeutet, doch alle nennen sie Dottie. Als ich ihren Namen hörte, zauberte seine Bedeutung ein Lächeln auf mein Gesicht, das ich selbst nicht mehr sehen konnte. Wochenspäter besuchte sie mich erstmals an meinem Grab, danach sah ich sie kaum noch. Meine Seele erhielt Aufgaben, die ich schnell erfüllen musste, wie man mir ausrichtete. Dem musste ich folgen, ob ich wollte oder nicht.

Doch gelang es mir stets, jeden Freitag, den Dreizehnten, an meinem Grab zu erscheinen. Ich komme, um ihr zuzuhören und seelischen Beistand zu leisten. Vor allem aber, um ihr zu zeigen, dass ich noch irgendwie da bin. So kann sie die Herausforderungen, die ihr begegnen, mit dem Gefühl meistern, ich sei an ihrer Seite. Schon in jener schrecklichen Nacht, als ich ihr Gesicht sah, erkannte ich ihre besondere Gabe, Menschen zu helfen. Es ist ihr Schicksal, eine Sündennehmerin zu sein. Das bestätigte sie mir, als sie sich bei ihrem ersten Besuch vor meinem Grabstein niederkniete und leise zu mir sprach.

„Leider konnte ich mich nicht von Ihnen verabschieden, Herr Nogger. Deshalb möchte ich jetzt ein paar Worte an Sie richten.  Zu meinem großen Bedauern hinderte mich meine Verletzung daran, das Krankenhaus zu verlassen. Ihnen die letzte Ehre zu erweisen, wäre das Mindeste gewesen, doch es war mir unmöglich. Es belastet mich zutiefst, nicht dabei gewesen zu sein; mein Leidensdruck kennt keine Grenzen. Tief in meinem Innern weiß ich, dass ich Ihnen mein Leben verdanke. Eine Spur Ihres Lebens begleitet mich, die Sie an jenem dunklen Morgen hinterließen. Sie wird mich ewig an Sie erinnern, mich glücklich und zugleich traurig machen, aber nie vergessen lassen, dass es Sie gab. Danke für Ihren Mut, der mich rettete, Ihnen jedoch das Leben nahm. Ich werde immer in Ihrer Schuld stehen und hoffe, es eines Tages wieder gutmachen zu können. “



Als ich meine Rede beendete, trat ein fremder Mann hinter mir auf.
„Entschuldigen Sie, ich bin Paul Nogger, Max' Onkel. Sind Sie die junge Frau, die ihm ihr Leben verdankt? “
„Ja, das bin ich. Mein Name ist Dorothea Stiel. Trotz der traurigen Umstände freue ich mich, Sie kennenzulernen, Herr Nogger. “
„Verzeihen Sie, ich wollte Ihnen kein schlechtes Gewissen machen. Meine Wortwahl war unpassend. Max und ich arbeiteten als Bestatter auf dem Urnenfriedhof. Er liebte seine Arbeit, sie motivierte ihn und gab ihm Mut für kommende Herausforderungen. “

Alle Mitarbeiter von Max sind fassungslos, dass ihm so etwas passiert. Er war ein guter Mensch, der helfen wollte. Nun lebt er nicht mehr, und das ist für uns alle unbegreiflich. Als ich seinen Spind im Umkleideraum ausräumte, fand ich ein Buch, das er selbst geschrieben hatte. Leider konnte niemand in unserer Familie etwas damit anfangen, da keiner den Inhalt verstand. Deshalb dachte ich, Sie könnten Interesse daran haben.

„Warum kommen Sie ausgerechnet auf mich? Ist das Buch nicht etwas Persönliches? “

„Sie haben recht, aber was Sie kürzlich mit ihm erlebt haben, hat eine Verbindung zu diesem Buch. “ Ich kann es nicht erklären, doch ich denke, Sie sollten es unbedingt lesen.

„Wenn ihre Familie das auch so sieht, würde ich es gerne lesen. “

„Ich versichere Ihnen, Dorothea, die Familie ist meiner Meinung, ebenso wie es Max wäre. “

Noch am selben Abend las ich das Buch und erkannte sofort seine Bedeutung. Max schilderte den Sündennehmer so glaubwürdig, dass ich keinen Zweifel an der Wahrheit hatte. Seine ausführliche und verständliche Beschreibung half mir enorm, in seine Fußstapfen zu treten. Diese große Ehre, sein Nachfolger zu werden, berührte mich tief und war unbeschreiblich. Wohin mich der Weg auch führte, das Buch blieb mein ständiger Begleiter. Bis heute dient es mir als Ersthelfer, Ratgeber und Gebetbuch. Dadurch fühle ich, als wäre er bei mir.

Deshalb verbringe ich viel Zeit auf dem Urnenfriedhof. Die Menschen erzählen, sein Grab sei ein heiliger Ort. Der Grabstein soll an einem bestimmten Tag eine Energie freisetzen, die als himmlisch gilt. Es handelt sich um Freitag, den Dreizehnten, den Tag seines Todes. Man sagt, an diesem Tag könne man am Grab seine Sünden ablegen und den Friedhof sündenfrei verlassen. Für mich ist es der ideale Ort, ihm meine ewige Dankbarkeit zu zeigen und gleichzeitig die Menschen von ihren Sünden zu befreien, wie er es tat. An diesem besonderen Tag halte ich mich unbemerkt in der Nähe des Grabes auf, um den Glauben zu stärken, dass er dahinter steckt. Dies geschieht ein- bis dreimal im Jahr.

Es sind für mich seit diesem geschehen die wichtigsten Tage in meinem Leben geworden. Freitag der dreizehnte wurde mein geheimer zweiter Geburtstag, an dem ich die ganze Nacht an seinem Grab verweile. Bei jedem Wetter, egal ob es regnet oder bitterkalt ist, bleibe ich hier. Bis in den frühen Morgenstunden, wenn die Nacht sich in den Tag verwandelt. Denn da nehme ich Max hier an seinem Grab immer noch seine Sünden ab. So seltsam es für manche wohl sein mag, doch in dieser Nacht kann ich ihm näher sein als in all den anderen Nächten. Es fühlt sich für mich dabei so an, als würde er sich direkt neben mir befinden. So nah und so glaubwürdig, als würde er noch leben. Seinen Geruch trage ich heute noch in meiner Nase, und hoffe, er wird mich nie verlassen. Denn für mich ist und bleibt er ein Vorbild für die Menschheit, ein wahrer, echter Held.


Schlusswort
Oft merken die Menschen nicht, dass ihnen schon häufig Sünden vergeben wurden. Wahrscheinlich ist das auch besser so, denn wer es versteht, erhält oft einen falschen Eindruck.

Kurzgeschichte aus Simmering
 
 
Andreas K.                                                              
(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht)

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