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Der Mann vom Maroni-Stand

Es gibt Geschichten, die fallen wie Schnee – leise, sanft, unaufdringlich. Und es gibt Geschichten, die wie ein Schneesturm über das Leben fegen und alles verändern.
Dies ist eine solche Geschichte.

Im Winter 1968 lag Wien unter einer schweren Schneedecke. Schnee türmte sich an den Straßenrändern, Laternen warfen flackerndes Licht auf den Gehsteig, und ein eisiger Wind pfiff über den Zentralfriedhof. Tor 1 war wie immer belebt: Trauernde, Spaziergänger, Arbeiter – und jene, die nur auf eine Tüte Maroni vorbeikamen.

Seit ich denken kann, stand dort der Maroni-Mann. Ein gutmütiger, stets lächelnder Mann, der selbst im härtesten Winter mit seinem Lächeln wärmte. Doch in diesem Dezember war alles anders.

Der Stand war derselbe, der Duft der gerösteten Kastanien unverändert – aber der Mann dahinter war ein anderer.

Er wirkte alt, älter als jeder, den ich je gesehen hatte. Ein dichter grauer Vollbart bedeckte sein Gesicht, doch die lange Narbe, die sich von der Stirn über die Wange zog, blieb sichtbar. Seine Kleidung bestand aus abgetragenen Stoffen, schmutzig, voller Geschichte. Eine halb geleerte Rumflasche ragte aus seiner Manteltasche, und seine Augen – dunkel, tief, verloren – erzählten von einem Leben, das zu viel gesehen hatte.

Man fürchtete ihn. Kinder flüsterten über ihn, Erwachsene tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Und doch …

Der Duft seiner Maroni war unwiderstehlich – süßer, stärker, wärmer als alles, was ich je gerochen hatte.

Ich war zwölf. Mein Name ist Tomi. Trotz der Angst, die in meinem Magen rumorte, war es wohl die Neugier, die mich an jenem Abend, als der Schnee wie Nadeln fiel, zu seinem Stand zog.
Die Dämmerung hatte längst eingesetzt, und die Schatten der kahlen Bäume tasteten wie lange Finger über den Boden. Ich stand da, zitternd, mein Atem stieg in weißen Wolken auf, als der alte Mann mich ansah. Sein Blick war ruhig, traurig– aber nicht unfreundlich.
„Friert dich, Junge? “ fragte er mit rauer Stimme.
Ich nickte.
Er griff nach einer Tüte heißer Maroni, reichte sie mir und sagte:
„Setz dich zu mir. Sonst frisst die Kälte sich bis in deine Träume. Und während du dich aufwärmst, erzähle ich dir eine Weihnachtsgeschichte, die du nie vergessen wirst. “

Ich zögerte. Doch etwas an ihm – vielleicht die leise Wärme in seinem Blick, vielleicht der Duft der Kastanien – nahm meiner Angst die Schärfe. Also setzte ich mich neben ihn, dicht an die glühende Eisenfläche des rostigen Maroniofens.
Der Wind trieb Schnee über den Boden. Der Friedhof lag still im Winterdämmer. Der alte Mann begann zu erzählen.

**Die Geschichte des Jungen**
„Es war ein Winter wie dieser“, hob er an und rieb seine rauen Hände über dem Ofen. „Nur viel schlimmer, viel dunkler. Ein Junge – kaum älter als du – lebte allein mit seiner Mutter in einer kleinen Holzhütte am Stadtrand. “

Er sprach von Hunger und Kälte.
Von einer Mutter, die krank wurde.
Von einem Vater, den der Junge nie kannte.
Von langen Nächten, in denen der Junge durch den Schnee streifte, suchend nach Holz, Essen, Wärme – und manchmal nur nach einem Funken Hoffnung.

Seine Stimme zitterte, wenn er von den Schmerzen des Jungen erzählte. Sie wurde leiser, brüchiger, wenn er von Tränen sprach, die niemand sah. Und manchmal, ganz selten, schimmerte ein schwaches Lachen durch, wenn kleine, fast vergessene Momente von Glück auftauchten – ein geschenkter Apfel, ein warmer Tag, eine freundliche Geste.

Die Zeit verging. Stunden? Minuten? Ich weiß es nicht. Die Welt draußen verschwand im Schneegestöber, doch die Stimme des alten Mannes blieb klar. Die Geschichte zog mich immer tiefer hinein, wurde immer düsterer. Der Junge verlor vieles – Menschen, Orte, Träume. Er wuchs heran, wurde härter, und das Leben hinterließ Spuren, innen wie außen.

Als er den Teil der Geschichte erreichte, in dem der Junge seine Mutter verlor, stockte seine Stimme. Ich schluckte. War es die Kälte oder die Traurigkeit, die mich zittern ließ?
Dann herrschte Stille.
Nur das Knistern der Maroni durchbrach sie.
Er sah mich an, und seine Augen schienen plötzlich unendlich alt.
„Und dieser Junge …“
Er hielt inne.
Eine Schneeflocke schmolz in seinem Vollbart. „… dieser Junge war ich. “
Mir verschlug es den Atem.

Ich sah ihn an – die Narbe, die Kleidung, die Flasche Rum, die Traurigkeit in seinem Blick. Plötzlich ergab alles Sinn. Er lächelte schwach, ein Lächeln, das so schmerzte, dass mir die Augen feucht wurden.
„Manchmal erzählt man seine Geschichte nicht, um bemitleidet zu werden“, sagte er. „Sondern damit jemand sie weiterträgt. Damit sie nicht verloren geht. “
Er reichte mir eine letzte Maroni, warm wie ein kleines Wunder.
„Behalte sie gut, Tomi. Und die Geschichte noch besser. “

**Viele Jahre später**
Die Zeit verging schneller, als Schnee schmilzt. Eines Tages war der alte Mann fort – einfach verschwunden. Niemand wusste, wohin. Es war, als hätte der Winter ihn geholt. Doch der Maroni-stand blieb.
Irgendwann, als ich erwachsen war, stand ich selbst dahinter. Ich – Tomi – der Junge, der einst seine Geschichte hörte. An kalten Abenden, wenn Kinder mit zitternden Händen eine Tüte Maroni kauften, sagte ich:
„Komm, setz dich zu mir. Ich erzähle dir eine Weihnachtsgeschichte. Eine, die ich nie vergessen habe. “
Und so lebte die Geschichte weiter. Von Mund zu Ohr. Von Herz zu Herz. Durch die Jahrzehnte, durch das Schneetreiben, durch die Zeit.

Doch eines Tages, viele Jahre später, geschah etwas, das alles veränderte. Etwas, das die Vergangenheit zurückbrachte. Ein Geheimnis, das ich nie erwartet hätte.

Der Winter hatte Wien fest im Griff. Jahrzehnte waren vergangen, seit der alte Mann mir seine Geschichte anvertraut hatte. Inzwischen war ich selbst alt geworden, und der Maroni-stand am Tor 1 war mein zweites Zuhause.

Es war ein bitterkalter Dezemberabend. Der Himmel drückte grau und schwer, der Wind trug die Stimmen der Toten, die hinter den Mauern des Zentralfriedhofs ruhten. Kinder kamen und gingen, und ich erzählte ihnen die Geschichte, die einst mir anvertraut worden war – die Geschichte eines Jungen, der viel zu früh die Grausamkeit der Welt begreifen musste.

Ich erzählte sie aus Respekt. Aus Dankbarkeit. Und weil ich wusste, dass manche Geschichten nicht sterben dürfen. Doch an diesem Abend sollte sich alles ändern. Etwas geschah, das mein Leben auf den Kopf stellte.

Es war spät, die Straßen lagen fast leer. Nur das orange Licht einer Laterne warf lange Schatten auf meinen kleinen Stand. Ich packte gerade die letzten Maroni zusammen, als ich Schritte hörte. Langsame, schleppende Schritte.

Ich sah auf. Ein Mann kam näher.

Er war groß, gehüllt in einen dunklen Mantel, der Schnee lastete schwer auf seinen Schultern. Sein Gang wirkte unsicher, fast hinkend. Sein Gesicht blieb im Schatten – nur ein langer Bart und eine tiefe Kapuze zeichneten sich ab.

Mein Herz schlug schneller. Etwas an ihm kam mir… vertraut vor. Wie ein Schatten aus einer anderen Zeit. Als er vor mir stand, hob er langsam den Kopf. Die Laterne flackerte. Und dann sah ich sie – die Narbe.

Die Narbe, die sein Gesicht durchzog. Die Narbe, die ich nie vergessen hatte. Mir stockte der Atem. Meine Knie gaben nach.

„Nein… das kann nicht sein…“, flüsterte ich.

Der Mann lächelte – mühsam, aber warm.

„Hallo, Tomi. “

Ich glaubte, der Boden würde unter mir aufbrechen. Der alte Maroni-Mann – der Mann meiner Kindheit, von dem ich dachte, er sei längst tot – stand vor mir.
„Du… du bist…“, stammelte ich.
„Ich bin zurück“, unterbrach er mich leise. „Aber nicht für lange. “
Er wirkte erschöpft. Sein Gesicht war älter, viel älter. Der Bart schneeweiß, die Haut eingefallen. Doch seine Augen –diese traurigen, geheimnisvollen Augen – blieben unverändert.

Mit zitternden Händen holte ich zwei Hocker. Wir setzten uns nebeneinander an den Stand. Für einen Moment fühlte es sich an wie damals, im Winter 1968.
„Wo warst du all die Jahre? “, fragte ich.
Er atmete tief durch, sein Blick ruhte auf den glühenden Kastanien im Ofen, als suchte er dort Kraft.
„Ich musste fort“, sagte er. „Dinge regeln. Dinge, über die ich nie gesprochen habe. “
Ich spürte, wie er rang – mit den Worten, mit seinen Erinnerungen, mit sich selbst.
„Tomi“, begann er schließlich, „ich habe dir damals die Geschichte eines Jungen erzählt. Aber ich habe sie nicht zu Ende erzählt. “
Ein Schauer lief mir über den Rücken.
„Der Junge“, fuhr er fort, „war nicht nur arm. Nicht nur allein. Er… war auch auf der Flucht. “

„Auf der Flucht? “ fragte ich.
Er nickte.
„Vor Männern, die sein Vater gegen sich aufgebracht hatte. Männer ohne Gnade. Sie jagten ihn und seine Mutter. Und als sie uns fanden…“
Seine Stimme brach. Ich schwieg. Die Luft schien zu erstarren, als hielte selbst der Schnee den Atem an.
„Die Narbe in meinem Gesicht“, sagte er schließlich, „ist ihr Werk. Meine Mutter… sie hat mich gerettet. Mit ihrem letzten Atemzug. “
Er schloss die Augen. Eine Träne rann durch seinen Bart.
„Ich schwor mir, niemanden mehr zu gefährden. Deshalb verschwand ich. Deshalb verließ ich Wien. Ich hoffte, die Vergangenheit würde mich vergessen. “
Er sah mich an – ernst, flehend, mit einem Blick, der mich frösteln ließ.
„Aber sie hat mich nicht vergessen, Tomi. Und sie wird auch dich nicht vergessen. “
Mir wurde kalt. Kälter als der Winter um uns.
„Was meinst du? “ fragte ich.
Er griff in seine Manteltasche und zog ein kleines, abgenutztes Notizbuch hervor. Das Leder war rissig, die Seiten durchweicht, doch es wirkte bedeutungsschwer.
„Dieses Buch“, sagte er, „hat mein Vater hinterlassen. Es birgt etwas Wertvolles. Gefährliches. Und die Männer, die es wollen… sie haben mich wieder gefunden. “
Ich starrte ihn an, fassungslos.
„Und du bringst es zu mir? “
„Weil du der Einzige bist, dem ich vertraue“, sagte er.
„Und weil du die Geschichte kennst. Nicht nur die schöne – auch die dunkle. “
Er legte das Notizbuch in meine Hände. Es wog schwer. Nicht wegen seines Materials, sondern wegen dessen, was es bedeutete.

„Tomi“, flüsterte er, „wenn sie kommen, wirst du es spüren. Und wenn dieser Tag da ist – lauf. Lauf, ohne dich umzusehen. “
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein! Ich lasse dich nicht wieder allein! “
Er lächelte traurig.
„Ich bin schon lange allein. “
Dann erhob er sich. Schwerfällig, als trüge jeder Schritt die Last eines Jahrhunderts. Ich sprang auf.
„Wohin gehst du diesmal? “
Er blickte über die Schulter.
„Das spielt keine Rolle. “
„Doch! “ rief ich. „Ich muss wissen, ob ich dich jemals wiedersehe! “
Er hielt inne. Der Schnee fiel in dichten Flocken, hüllte ihn ein. Seine Gestalt verschwand fast im weißen Sturm.
„Vielleicht“, sagte er. „Vielleicht auch nicht. “
Dann ging er. Ohne ein weiteres Wort. Ohne sich umzudrehen.

Ich schloss den Stand später als sonst. Das Notizbuch in meiner Tasche fühlte sich an wie glühender Stein. Irgendetwas sagte mir, dass es mein Leben verändern würde. Als ich mich umdrehte, erstarrte ich:
Im Schnee, direkt vor meinem Stand, lag ein einzelner Fußabdruck. Groß. Schwer. Weder von mir noch von dem alten Mann. Daneben:
Ein zerknülltes Stück Papier. Ich hob es auf. In krakeliger Schrift stand darauf:
„Wir wissen, dass du die Geschichte kennst. “
Mir wurde schwindelig. Ich sah mich um – niemand da. Nur der Wind. Nur der Schnee. Nur die Kälte. Doch tief in mir wusste ich:
Das war erst der Anfang.

Die Nacht nach der Rückkehr des alten Maroni-Manns war die längste meines Lebens. In meiner kleinen Wohnung saß ich, in eine alte Wolldecke gehüllt, und starrte auf das lederne Notizbuch in meiner Hand. Es fühlte sich an wie ein glühender Stein.
Unscheinbar, vergilbt, vom Schnee und der Zeit gezeichnet – und doch wusste ich: Dieses Buch war der Schlüssel.
Die Narbe des alten Mannes. Sein Verschwinden. Seine Rückkehr. Seine Warnung. Und jetzt diese Nachricht im Schnee:
„Wir wissen, dass du die Geschichte kennst. “
Wer waren sie? Und woher wussten sie von mir?
Es war weit nach Mitternacht, als ich endlich den Mut fand, das Notizbuch zu öffnen. Der Einband knarrte, als wolle er sich sträuben. Die ersten Seiten zeigten Zahlen, Skizzen, Koordinaten – alles unverständlich. Doch mitten im Buch stieß ich auf einen Satz, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ:
„Wer die Wahrheit über die Nacht am Fluss kennt, kennt meinen Fluch. “
Der Fluss. Der alte Mann hatte nie von einem Fluss gesprochen.
Ich blätterte weiter. Zeichnungen tauchten auf: ein alter Steg, eine zerbrochene Laterne, ein Junge, der in die Dunkelheit flieht.
Dann kam eine Seite, halb herausgerissen, als hätte jemand sie im letzten Moment retten wollen. Darauf stand:
„Sie kommen. Wenn du das liest, bin ich bereits zu spät. “

Ich schlug das Buch zu. Meine Hände zitterten. Dann hörte ich es: ein Klopfen am Fenster. Leise, kaum wahrnehmbar.
Vorsichtig schlich ich hin und spähte hinaus. Der Schnee fiel in dichten Flocken, die Laterne im Hof flackerte im Wind. Zuerst sah ich nichts, nur Weiß und Dunkelheit. Dann — eine Bewegung.
Ein Mann stand im Hof. Regungslos. Sein Gesicht blieb im Schatten, doch sein Mantel war dunkel, seine Gestalt breit. Er blickte direkt zu meinem Fenster.
Ich fuhr zurück, das Herz schlug mir bis zum Hals. War er einer von ihnen? Ich riskierte einen zweiten Blick. Jetzt waren es zwei Männer. Der eine zeigte auf mein Fenster, der andere nickte. Ich erstarrte.

Hatten sie mich gefunden? Wussten sie, dass ich das Buch hatte?
Einer öffnete langsam die Metalltür zum Stiegenhaus. Mir war klar: Sie würden nicht klopfen.
Ich stopfte das Notizbuch in meine Tasche, schnappte mir den Mantel und rannte zur Hintertür, die fast nie benutzt wurde. Das Schloss klemmte wie immer, ließ sich nur mit Gewalt öffnen.

Hinter mir hallten Schritte im Stiegenhaus. Schwer. Langsam. Entschlossen.
„Öffne die Tür“, sagte eine Stimme. Tief, kühl, ohne Zorn — und gerade deshalb so bedrohlich.
Ich riss die Hintertür auf und stürmte hinaus in den Schneesturm. Der Wind peitschte mir ins Gesicht, der Boden war glatt. Ich rannte die schmale Gasse entlang, bis meine Lungen brannten.

Als ich mich umdrehte, stand ein Mann in der Tür. Er beobachtete mich. Er folgte nicht. Er lächelte. Warum… lächelte er? Ich wusste nicht, wohin ich sonst fliehen konnte.
Meine Füße trugen mich instinktiv zu dem einzigen Ort, der mir je Schutz geboten hatte:
der Maroni-stand.
Tor 1 war um diese Zeit natürlich verschlossen, doch der Zaun daneben war alt, rostig — und an einer Stelle seit meiner Kindheit verbogen. Ich schlüpfte hindurch, landete im knirschenden Schnee und stand zwischen dunklen Grabreihen.
Der Friedhof lag still. Zu still. Nur der Wind sang sein kaltes Lied.
Ich rannte zwischen den Gräbern hindurch, bis ich „meinen“ Stand erreichte. Die Glut im Ofen war längst erloschen, doch er roch noch immer nach Wärme, nach Erinnerungen, nach Weihnachtsabenden, die nie wiederkehrten. Ich legte die Hand auf das kalte Metall.
„Alter Mann“, flüsterte ich, „wo bist du jetzt? “
Da hörte ich plötzlich Schritte. Nicht im Schnee. Auf dem Kiesweg. Ganz nah. Ich drehte mich um.
Ein Mann stand nur wenige Meter entfernt. Sein Gesicht blieb im Schatten, doch ich erkannte die Silhouette, den Umriss eines Mantels.
„Tomi“, sagte er.
Ich erstarrte.
Nein… diese Stimme… ich kannte sie.
Der Mann trat einen Schritt ins Licht. Meine Knie wurden weich.
„Du“, flüsterte ich.
Es war nicht der alte Mann. Aber es war jemand, dessen Gesicht ich nur von einer vergilbten Fotografie im Notizbuch kannte. Ein Gesicht, das ich niemals persönlich sehen wollte. Das Gesicht des Vaters. Des Vaters des alten Mannes.
Unmöglich. Unbegreiflich. Und doch stand er vor mir. Als wäre er nie verschwunden.
„Wir haben viel zu besprechen“, sagte er.
In diesem Moment wusste ich:

Die Geschichte, die ich weitererzählt hatte, war nur die halbe Wahrheit. Und das Notizbuch war erst der Anfang.
Der Schnee fiel dichter denn je über den Wiener Zentralfriedhof. Dicke Flocken legten sich lautlos auf Grabsteine, Wege und Bäume. Es war, als hielte die Welt den Atem an – als wüsste sie, dass diese Nacht eine Entscheidung bringen würde, die längst überfällig war.
Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich in das Gesicht des Mannes sah, der im flackernden Licht der fernen Laternen vor mir stand.
Ein Gesicht, das weder alt noch jung war, aber von gelebten Jahren sprach. Ein Gesicht, das ich nur kannte, weil es im Notizbuch meines alten Freundes skizziert war – grob, doch unverkennbar.
Der Vater. Der Vater des alten Mannes. Eine Gestalt, die sein Sohn für tot hielt. Und von der ich hoffte, sie existiere nur als schmerzhafte Erinnerung. Doch jetzt stand er hier, im Schnee, an meinem Maroni-stand, so real wie der Frost an meinen Händen.
„Du… lebst? “ stammelte ich schließlich.
Der Mann nickte langsam, als wäre ihm diese Frage vertraut.
„Die Welt glaubt vieles, Tomi. Und vieles davon ist falsch. “
Seine Stimme klang ruhig, fast warm – doch darin lag etwas, das ich nicht greifen konnte. Eine Schwere. Ein Schatten.
Er trat näher.
„Ich habe dich erwartet. “
Ich wich einen Schritt zurück.
„Warum? Wer sind Sie wirklich? “
Er lächelte traurig, senkte den Blick, als schämte er sich für jede Antwort.
„Ich bin nicht der Mann, von dem mein Sohn dir im Notizbuch erzählt hat. Zumindest… nicht mehr. “
Er hob den Kopf und sah mir direkt in die Augen.
„Aber ich bin auch nicht unschuldig. “
Er atmete tief ein und setzte sich auf die alte Holzbank neben meinem Stand, die vom Schnee bedeckt war. Ich blieb stehen – zu nervös, zu angespannt.
„Die Nacht am Fluss“, begann er, „wurde nur zur Hälfte erzählt. “
Ich schwieg. Ich konnte nicht sprechen.
„Mein Sohn – der Maroni-Mann – war damals ein Kind, wehrlos. Wir lebten arm, aber zusammen. Doch ich… ich geriet in Geschäfte, die ein Mann nie anfassen sollte. Männer, die ich verraten habe, verfolgten uns. Und an jenem Abend fanden sie uns. “

Seine Augen verdunkelten sich.
„Ich kämpfte. Ich wollte meine Familie retten. Aber ich…“
Er schluckte schwer.
„… ich schaffte es nicht. “

„Dein Sohn hat mir erzählt, dass seine Mutter—“
Er hob die Hand.
„Nein, Tomi. Nicht sie. Ich war es, der floh. “

Ich erstarrte.
„Ich ließ meine Familie zurück“, sagte er mit brüchiger Stimme.
„Ich war ein Feigling. “

Stille. Schnee. Nur das ferne Heulen des Windes.

„Sie starb durch ihre Hand“, flüsterte er. „Um ihn zu retten. Um Zeit zu gewinnen. Um die Verfolger abzulenken. Und ich? Ich lief. “

Seine Stimme brach. Ich rang nach Luft.
Alles, was ich über diesen Mann zu wissen glaubte – all seine Narben, all sein Leid – entsprang diesem Moment.

„Als ich Jahre später zurückkam, suchte ich ihn überall. Doch die Welt war hart, und er hatte gelernt, noch härter zu sein. Er wollte nichts mehr von mir wissen. Für ihn war ich tot – und in seinem Herzen blieb ich es. “

Ich dachte an den Mann, wie ich ihn kannte:

Geschlagen, gebrochen, verlassen – und doch voller Wärme, wenn er Maroni an Kinder verteilte.

Der Vater sprach weiter:
„Ich verließ Wien. Ich wusste, dass meine Nähe ihn gefährden würde. Aber ich hörte nie auf, ihn zu beobachten. Aus der Ferne. Unsichtbar. “

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Der Gedanke, dass er all die Jahre irgendwo in Wien gelebt hatte, vielleicht nur Straßen entfernt…

„Warum jetzt? “ fragte ich.
„Warum bist du in dieser Nacht zu mir gekommen? “

Er sah auf das Notizbuch in meiner Jackentasche.
„Wegen des Buches, Tomi. Und wegen der Männer. “

Er stand auf, klopfte langsam den Schnee von seinem Mantel und deutete mit dem Kopf ins Dunkel hinter den Grabreihen.

„Sie waren nie fort. Die Männer, die uns damals jagten. Sie haben gewartet. Jahre. Weil sie wussten, dass ich zurückkehren würde. “
Ich schluckte schwer.
„Und das Buch? “
Er nickte.
„Es enthält die Beweise. Namen, Orte – alles, um sie zu stürzen. Ich schrieb es kurz vor meiner Flucht und versteckte es bei meinem Sohn, ohne dass er wusste, was es war. Jetzt, da sie wissen, dass er es weitergegeben hat…“
Ich begriff. Die Männer im Hof. Der lächelnde Fremde.
„… jagen sie mich? “ flüsterte ich.
„Nein“, sagte er leise. „Sie jagen uns. “

Plötzlich hörte ich Schritte. Echte Schritte. Im frisch gefallenen Schnee. Ganz nah.
Der Vater horchte auf. Sein Körper spannte sich.
„Sie sind hier“, flüsterte er.
Ich drehte mich um – doch ich sah nur Schatten, die im Wind schwankten. Einbildung? Oder waren sie wirklich so nah? Er legte mir die Hand auf die Schulter.
„Tomi… ich bin hier, um es zu beenden. Nicht du. “
„Aber—“
„Du hast meinen Sohn geehrt, indem du seine Geschichte weitergetragen hast. Du hast mich geehrt, indem du sie nicht vergessen hast. “
Er lächelte schwach.
„Jetzt bin ich an der Reihe. “

Ich wollte etwas sagen – ihn aufhalten, ihm helfen – doch sein Blick war ruhig, entschlossen. Meine Worte blieben mir im Hals stecken. Er zog eine kleine, metallene Schachtel aus seiner Manteltasche.
„In dieser Schachtel liegt das Ende. Für sie. Für uns. Für alles. “

Er drückte mir das Paket in die Hand.
„Bring es morgen früh zur Polizei. Sag, es sei anonym. Keine Namen, keine Geschichten. “
Ich wollte widersprechen, doch er hob die Hand.
„Mein Leben ist vorbei, Tomi. Aber deins liegt noch vor dir. “

Schritte näherten sich. Stimmen. Drei Männer, flüsternd, suchend.
Der Vater trat zurück, tiefer in den Schnee, tiefer in die Schatten des Friedhofs.
„Wohin gehst du? “ rief ich.
Er lächelte ein letztes Mal.
„Nach Hause. “

Dann drehte er sich um und verschwand zwischen den Grabsteinen. Ich wollte ihm folgen – da hörte ich einen Knall. Dann einen zweiten. Stimmen wurden laut. Schritte. Rufe. Und dann – Stille. Vollkommene, absolute Stille, die mein Herz stocken ließ.

Ich rannte los, stolperte durch den Schnee, vorbei an Kreuzen und Steinen, suchte nach ihm.
Doch ich fand nichts. Keine Spur. Keine Silhouette. Nur Schnee.
Zwei Sets von Fußspuren endeten abrupt, als hätte der Wind sie verschluckt.

Ich wartete. Eine Stunde. Zwei. Drei. Aber der Vater kam nicht zurück. Er kam nie zurück.
Ich brachte das Paket zur Polizei. Anonym, wie er es wollte.

In den folgenden Tagen gab es Festnahmen, Ermittlungen, Schlagzeilen. Doch niemand erwähnte den alten Mann. Oder seinen Vater. Oder mich. Alles verlief still, so wie er es geplant hatte.

Ein Jahr später, an Heiligabend, öffnete ich den Maroni-stand wie immer. Kinder kamen. Erwachsene. Manche fragten nach der alten Weihnachtsgeschichte. Ich erzählte sie – wie jedes Jahr. Doch diesmal fügte ich den letzten Teil hinzu. Den Teil, den nur ich kannte. Den Teil, den ich nie vergessen würde.

Als ich spätabends schloss und durch Tor 1 hinausging, sah ich etwas im Schnee. Eine einzige, perfekt gebratene Maroni. In einer alten, zerfetzten Papiertüte. Genau wie damals. Darunter – der Abdruck einer Hand. Groß. Alt. Kraftlos. Und doch unverkennbar.

Ich hob die Maroni auf. Sie war warm. Ich lächelte. Zum ersten Mal seit Langem spürte ich Frieden.


 

**Schlusswort**
Manche Menschen verschwinden im Schnee, doch ihre Geschichten bleiben.


 

Kurzgeschichte aus Simmering

 

 

Andreas Kmeth                                                               

(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht)                                                                                                                             

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