
Der Fotograf
Seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert fasziniert die Fotografie Menschen auf der ganzen Welt – mich eingeschlossen. Seit Jahren widme ich mich mit Leidenschaft meinem einzigen, aber zeitintensiven Hobby: dem Fotografieren. Dabei arbeite ich konzentriert und mit Hingabe. Es macht Freude, fordert heraus und lässt der Kreativität freien Lauf. Ich liebe es, die Augenblicke des Lebens mit meiner Kamera einzufangen. Beim Durchsehen alter Fotos kehren die Gefühle und Eindrücke zurück, die ich beim Fotografieren empfand. Und selbst wenn nicht jedes Bild ein lebendes Motiv zeigt, bin ich überzeugt: Jedes Foto trägt eine eigene Seele.
Fotografieren tröstet, besonders, wenn man es allein tut – so wie ich. Gehe ich spazieren, um Landschaften aufzunehmen, atme ich frische Luft und spüre die Nähe zur Natur. Derzeit widme ich meine Freizeit einem großen Projekt, das mich seit Wochen begeistert: den Tieren am Zentralfriedhof. Was uns Menschen gefällt – die Stille, die Ungestörtheit und die oft liebevoll gestalteten Gräber und Anlagen – zieht immer mehr Wildtiere an.
Nicht nur Wildkaninchen fühlen sich zwischen den Gräbern wohl. Auch Rehe, Füchse, Wildgänse und Wildschweine kommen gern vorbei. Beim Gang über den Friedhof höre ich oft das Klopfen der Spechte oder das Zwitschern von Spottdrosseln, Spatzen und Meisen. Doch mein Augenmerk gilt allein den Waldhörnchen.
Ich beobachte sie mit Vergnügen, wie sie flink und sicher durch die Bäume springen oder mit prall gefüllten Backenvoller Nüsse eifrig hin- und herlaufen.
Besonders gern habe ich sie vor meiner Kamera. Auch spontane Schnappschüsse liebe ich an diesem stillen Ort. Unglaubliche Aufnahmen gelangen mir in verschiedenen Posen, wenn ich die perfekte Position fand und auf der Lauer lag. Oft verbrachte ich Stunden versteckt, ohne ein Bild zu schießen – doch das störte mich nicht. Im Gegenteil: Ich genoss den stillen Zauber dieser Momente in vollen Zügen.
Bei meinen Lieblingen, den Waldhörnchen, schien alles, was sie taten, ein Spiel zu sein. Ob sie nach Futter suchten oder von Baum zu Baum sprangen – stets strahlten sie Spielfreude aus. Nach langer Beobachtung lernte ich ein besonderes Waldhörnchen kennen, das ich Sole nannte. Der Name kam mir in den Sinn, weil an diesem Tag die Sonne intensiv schien. „Sole“ hat italienische Wurzeln und stammt vom lateinischen „Sol“ ab, was „Sonne“ bedeutet. Der Name steht für Helligkeit, Strahlkraft und Sonnigkeit. Sole war unverkennbar: Ein weißlich-gelber Streifen zog sich über ihren ganzen Körper. Kein anderes Waldhörnchen auf dem Friedhof trug ein solches Merkmal – sie war einzigartig.
Sole suchte gerade nach Futter, als sie mich bemerkte. Doch sie lief nicht davon. Im Gegenteil: Sie kam näher, fast ohne Scheu. Bis auf einen Meter wagte sie sich heran und schnappte sich die Walnuss, die auf dem Boden lag. Sofort sammelte ich die Walnüsse in einem Umkreis von zwei Metern ein und legte sie kreisförmig dicht um mich herum. Nach etwa einer Stunde kehrte sie zurück, um die Nüsse einzusammeln. Dabei kam sie so nah an mir vorbei, dass ich sie hätte berühren können. Doch ich ließ es, um sie nicht zu erschrecken.
Das wiederholte sich einige Tage, bis ich sie endlich streicheln konnte. Sie fraß mir sogar aus der Hand, und so wurden wir Freunde. Wochenlang trafen wir uns, und ich machte unzählige Fotos von ihr. Es wirkte, als würde sie das Fotografiert werden genießen. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, sie lächle in die Kamera. Wir waren glücklich und hatten großen Spaß zusammen. Doch eines Tages kam sie nicht mehr zu meinem Versteck. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, vielleicht war sie abgelenkt oder hatte anderes zu tun. Aber obwohl ich den ganzen Tag ihre Höhle in der großen Birke beobachtete, die in meinem Blickfeld lag, sah ich sie weder kommen noch gehen. Da wurde mir klar, dass etwas passiert sein musste. Tage lang hielt ich weiter Ausschau, doch vergeblich – von Sole fehlte jede Spur.
Alles wies für mich auf einen schrecklichen Verdacht hin: Ihr war womöglich etwas Schlimmes zugestoßen. Außerdem fiel mir auf, dass keine Waldhörnchen in der Nähe waren. Das machte die Sache noch verdächtiger. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, murmelte ich. Ich suchte gezielt die Plätze auf, an denen sie sich sonst oft aufhielten – doch auch dort war keines zu sehen. Selbst an ihrem Lieblingsplatz, der Nussbaumallee, blieb alles leer. Jetzt war ich sicher: Hier geht etwas Seltsames vor. Aber was?
Tag für Tag suchte ich nach Antworten, weil ich es einfach nicht begreifen konnte. Sole würde nicht einfach verschwinden, nicht jetzt, wo der Herbst beginnt und sie schon Futter für den Winter sammelt. Das gilt nicht nur für sie, sondern für alle anderen auch. Dass kein einziges mehr da ist, scheint unvorstellbar. Wer oder was steckt dahinter? Ich muss es herausfinden – es lässt mir keine Ruhe.
Ich beobachtete die übrigen Tierarten auf dem Friedhof genauer. Doch nichts Ungewöhnliches fiel mir auf – im Gegenteil, alles wirkte normal. Seltsam war nur, dass alle Waldhörnchen verschwunden waren, während die anderen Tiere ungestört blieben. Das jedoch bestärkte meinen düsteren Verdacht. Mein Herz zog sich zusammen, die Last drückte schwer auf mich. Aber wie konnte ich ihnen helfen? Wie sollte ich Sole finden?
Ich suchte weiter nach ihnen und stieß dabei zufällig auf ein seltsames Eisengestell. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich es sofort: eine Tierfalle. Wütend zerstörte ich die Falle, damit sie keinen Schaden mehr anrichten konnte. Dann setzte ich meine Suche fort und entdeckte bald weitere Fallen, die gut unter Gestrüpp versteckt waren. Einige davon waren äußerst gefährlich und konnten den Tieren weit mehr als nur Verletzungen zufügen. Selbst für Menschen stellten sie ein erhebliches Risiko dar. Doch wer steckte hinter diesem heimtückischen Plan? Wer war zu so einer Grausamkeit fähig? Die Friedhofsmitarbeiter? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Es mussten Fremde sein, die hier illegal Tiere jagten.
Ich werde mich bei der Verwaltung des Zentralfriedhofs nach Paul Brick erkundigen, einem Jugendfreund von mir. Soweit ich weiß, hat er hier seine Gärtnerlehre gemacht – vielleicht arbeitet er noch immer hier. Mit Paul verbinde ich schöne Erinnerungen an unsere Jugend. Wir hatten vieles gemeinsam: die gleiche Schule, denselben Fußballverein, und wir verbrachten oft unsere Freizeit zusammen. Später gingen wir sogar in die gleiche Fahrschule und machten gemeinsam den Führerschein. Danach riss der Kontakt ab, und wir verloren uns aus den Augen.
Am nächsten Morgen war es so weit: Ich ging zur Verwaltung und fragte nach ihm. Man sagte mir, er arbeite noch in der Friedhofsgärtnerei. Ohne zu zögern, machte ich mich auf den Weg dorthin. Kurz bevor ich die Gärtnerei erreichte, tauchte Paul plötzlich zwischen den Gräbern auf und lief mir direkt in die Arme. Beladen mit Gartenwerkzeug stand er vor mir und sagte:
„Bist du es, Ben? Das ist ja ewig her! Schön, dich mal wiederzusehen. “
„Ganz meinerseits, Paul. Was für ein Zufall – ich wollte dich gerade in der Gärtnerei besuchen. Die Verwaltung meinte, ich würde dich dort antreffen. Kaum zu glauben, es sind wohl fast zwanzig Jahre vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. “
„Ja, Ben, die Zeit rast, und ehe man sich versieht, ist man älter geworden. Aber was führt dich zu mir, alter Freund? Ich hoffe, es ist ein erfreulicher Anlass. “
„Na ja, das kommt darauf an. “ Ich arbeite seit Wochen an einem Fotoprojekt über eine Tierart, die auf dem Friedhof lebt– die Waldhörnchen. “
„Das klingt großartig! Ich bin sicher, das wird eine beeindruckende Arbeit. Deine Fotos sollen ja von außergewöhnlicher Qualität sein. “
„Danke, Paul. Aber leider ist der Grund meines Besuchs weniger erfreulich. Es geht um mein Projekt. Vor ein paar Tagen fiel mir auf, dass viele Waldhörnchen verschwunden sind. Eigentlich sehe ich gar keine mehr. Ist euch das auch aufgefallen, oder bilde ich mir das nur ein? “
„Nein, nicht wirklich, aber wir haben auch nicht darauf geachtet. “ Nimm es nicht so genau. Zu dieser Jahreszeit ziehen sie sich stark in ihre Höhlen zurück. Man sieht sie im Winter kaum, höchstens bei der Futtersuche. Deshalb wirkt es vielleicht seltsam auf dich. Ich glaube, du bildest dir mehr ein, als tatsächlich dahintersteckt. Mach dich nicht verrückt. Lass es gut sein und wecke keine Geister, wo keine sind. Es wäre auch besser, wenn meine Vorgesetzten nichts davon erfahren – die machen sonst nur unnötigen Ärger.
„Verstanden. Dann belassen wir es dabei und hoffen, dass du recht hast. “
Ich merkte, dass er nicht darüber sprechen wollte. Also wechselte ich rasch das Thema und sprach mit ihm nur noch über alte Zeiten, was ihn sichtlich ablenkte. Nach einer Weile musste er jedoch zurück an die Arbeit und beendete das Gespräch mit den Worten:
„Ich muss leider weiter, Ben. Die Arbeit ruft. Es hat mich sehr gefreut, dich wiederzusehen, und ich wünsche dir alles Gute für dein Projekt. “
„Auch für mich war es eine große Freude, dich wieder zutreffen, Paul. Dass wir uns nach so langer Zeit begegnet sind, empfinde ich als großes Glück. Aber genug geredet, ich muss ebenfalls los. Ich wünsche dir einen schönen Tag und hoffe, dass wir uns nicht erst in ein paar Jahren wiedersehen. “
Er nickte und ging weiter. Ich spürte, dass er mir die Idee auf subtile Weise ausreden wollte. Man sah ihm an, dass er log. Sein Körper war angespannt, sein Verhalten von Nervosität geprägt. Paul steckt damit drin, da bin ich sicher. Wie tief, wird sich vielleicht noch zeigen. Am besten lege ich mich wieder auf die Lauer – vielleicht entdecke ich jemanden Verdächtigen.
In bequemer Position beobachtete ich die Szene schon eine Weile aufmerksam. Doch tagsüber geschah nichts. Also entschied ich, auch die Nacht auf dem Friedhof zu verbringen. Die Stunden verstrichen, und niemand tauchte auf. Zweifel regten sich in mir:
„Vielleicht hat Paul recht, und ich bilde mir das nur ein“, murmelte ich. Doch unaufhörlich kreisten meine Gedanken: Was passiert mit den Tieren? Fängt man sie und isst sie? Tötet man sie wegen ihres Fells? Stopft man sie aus und stellt sie zur Schau? Es schien, als hätte nur ich bemerkt, dass so viele Waldhörnchen am Friedhof verschwunden sind.
Die Tierfallen könnten zwar für Waldhörnchen gedacht sein, doch ohne Beweise bleibt alles Spekulation. Aber wozu stellt man solche Fallen auf – aus Langeweile? Nein, das glaube ich nicht. Da steckt mehr dahinter, das fühle ich. Ich muss nur geduldig bleiben. Meine Augen fielen vor Müdigkeit immer wieder zu. Plötzlich durchbrach ein heller Lichtschein die Dunkelheit. Der Strahl einer Taschenlampe erleuchtete den Weg, den ich im Blick hatte. Ein großer, kräftiger Mann huschte im Schatten umher, gekleidet in die Uniform eines Friedhofsgärtners. Seltsam, denn um diese Zeit sollte hier niemand mehr sein. Ich beobachtete, wie er die Fallen prüfte und sich ärgerte, weil einige zerstört waren. Laut murmelte er vor sich hin:
„Was ist hier bloß los? Sieh dir das an – welcher Mistkerl zerstört meine Fallen? “ Die Stimme klang vor Wut geladen. „Ich hasse diesen Menschen jetzt schon, obwohl ich ihn nicht einmal gesehen habe. Wenn ich ihn erwische, breche ich ihm alle Knochen, das schwöre ich. “
Ich erstarrte. Diese Stimme kannte ich nur zu gut – es war Paul. Entsetzt wich ich zurück. Zwar hatte ich einen Verdacht, doch ich hoffte inständig, mich zu irren. Aber nein, mein alter Freund war tatsächlich schuld am Verschwinden der kleinen Waldhörnchen am Friedhof. Warum nur? Verkauft er sie? Verdient er so illegal Geld? Oder hat er den Verstand verloren? Was ist nur aus Paul geworden?
Wut entbrannt und aufbrausend stapfte er weiter, sein Temperament glich einer Lunte, die jeden Moment zünden konnte. Ich schlich ihm in sicherem Abstand hinterher und hoffte, unbemerkt zu bleiben. An einem versteckten Ort überprüfte er weitere Fallen. Doch ich hatte auch sie zuvor unbrauchbar gemacht, damit die Tiere sicher waren. Vor Zorn tobte er und brüllte:
„Wo steckt dieser Bastard, der mein Geschäft ruiniert hat? Ich zerreiße ihn, wenn ich ihn finde! “
Die Wut fraß mich auf, ich konnte sie nicht länger unterdrücken. Also schrie ich:
„Ich war es, Paul, du verdammter Tierquäler! “
„Ben, du? Warum hast du das getan? Du hast alles zerstört – das bringt mich um! Ich bin ein toter Mann. “
„Dass du der Schuldige bist, wusste ich damals nicht“, entgegnete ich. „Bis zuletzt hoffte ich, jemand anderes wäre verantwortlich. Aber nach unserem Gespräch hatte ich dich im Verdacht. Paul, du hast mich enttäuscht. Es tut mir leid, aber ich muss die Friedhofsverwaltung informieren. Diese Tat darf nicht ungesühnt bleiben. “
Paul stand stumm da, während ihm die Tragweite dieser Gräueltat klar wurde. Er flehte mich an, nichts zu verraten, und versprach im Gegenzug, diesem abscheulichen Treiben ein Ende zu setzen. Doch er war nicht allein verantwortlich. Hinter all dem steckte eine skrupellose Frau, die diese Grausamkeit lenkte. Sie gilt als Anführerin einer kleinen Bande von Kriminellen, die ihr blind gehorchen und sich ihr völlig unterwerfen.
„Paul, wie konntest du dich darauf einlassen? Warum quälst du die Tiere? Sie haben dir doch nichts getan. “
„Ich werde erpresst, Ben, weil ich spielsüchtig bin. “ Pferdewetten treiben mich in den Abgrund, doch meine Frau darf nichts davon wissen. Unsere Ehe steht auf der Kippe, die Scheidung scheint unausweichlich. Wenn sie alles erfährt, ist es wohl das Ende unserer fünfzehn gemeinsamen Jahre. Wir haben völlig unterschiedliche Vorstellungen, die nur zu Enttäuschung, Wut und Streit führen. Es ist die schwerste Zeit unserer Beziehung – ohne Mitgefühl, ohne Interesse, ohne Fürsorge. Sie zu retten, erscheint mir aussichtslos. Ben, ich weiß nicht, wie ich da je wieder herauskommen soll.
„Beruhige dich, Paul. Es gibt sicher einen Weg, deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Aber erzähl mir mehr über diese Frau, die dich erpresst. “
„Sie ist der Teufel: skrupellos, ohne Gewissen, rücksichtslos. Sie denkt nur an sich. “ Ohne zu zögern, begeht sie unmoralische oder verbotene Taten, um ihre Ziele zu erreichen. Die anderen in der Gruppe nennen sie Zauberdoktor, doch für mich ist sie eine böse Hexe. Schon lange vermute ich, dass sie zu einer Art geheimer Sekte gehören. Aber ich schwöre dir, ich bin nicht einer von ihnen. Ich liefere ihnen nur die gefangenen Waldhörnchen. Dafür bekomme ich Geld – und schweige. Sonst erfährt meine Frau alles. Mit dem Lohn tilge ich meine Schulden, die sich über die Jahre dummerweise angehäuft haben.
„Weißt du, was mit den Tieren passiert, nachdem du sie abgeliefert hast? “
„Sie werden getötet, präpariert, ausgestopft und weiterverkauft. “ Das Fleisch der Waldhörnchen gilt als Wundermittel, das angeblich heilt und das Leben verlängert. Auf dem Schwarzmarkt erzielt es hohe Preise. Ihr Blut trinkt die Bande selbst in Ritualen, um ihren Körper zu reinigen. Der illegale Handel mit diesen Tieren existiert wohl schon seit Jahren. Ich selbst liefere ihnen seit drei Jahren Nachschub. Doch ich vermute, bevor ich ins Spiel kam, haben sie sich an den Katzen der Umgebung vergriffen.
„Warum glaubst du das, Paul? Gibt es einen konkreten Verdacht? “
„Ich wohne in einer Gartensiedlung hier in der Nähe, und dort gab es immer freilebende Katzen. “ Man begegnete ihnen täglich, zu jeder Uhrzeit. Einige Nachbarn fütterten sie sogar regelmäßig. So ging es viele Jahre, bis die Katzen eines Tages verschwanden. Es war, als hätten sie sich über Nacht in Luft aufgelöst. Niemand sah sie mehr, niemand hörte ihr nächtliches Miauen. Selbst das Futter, das man ihnen hinstellte, blieb unberührt. Normalerweise war der Napf nach ein paar Stunden leer, weil immer eine Katze vorbeikam. Doch diesmal rührte sich nichts. Das war ungewöhnlich und unheimlich. Es bestätigte, dass die Katzen wirklich weg waren. Damals fragte ich mich, was mit ihnen geschehen war –und ich war nicht allein. Die ganze Siedlung war beunruhigt und betroffen. Doch aus Angst vor der Wahrheit schwieg man lieber. Niemand sprach je wieder darüber. Die Ältesten flüsterten nur heimlich, wir seien verflucht.
„Was denkst du, Paul? Stimmst du ihnen zu? “
„Nein, natürlich nicht. Damals hatte ich ein starkes Gefühl, dass etwas nicht stimmte. “ Doch die Leute waren überfordert mit dem Ereignis und versteckten sich aus Angst hinter diesen Worten.
„Paul, hast du seitdem irgendeinen Beweis gefunden? Etwas Auffälliges, das dir seltsam vorkam? “
„Ja. Bei meinem ersten Auftrag, als ich Waldhörnchen auf ihren Bauernhof lieferte, entdeckte ich Überreste toter Katzen.“ Damals wusste ich nicht, was mit den Tieren geschah, die ich brachte. Die Bedingung war klar: keine Fragen, sonst kein Geld. Aber es war unübersehbar, dass vor den Waldhörnchen Katzen dran waren.
„Wo liegt dieser Bauernhof, Paul? Hier in der Nähe? “
„Gleich rechts am Ortseingang von Kledering liegt ein kleiner Bauernhof, unübersehbar. Eine alte Holzscheune wurde zur Präparier Werkstatt umgebaut – sie dient als Schlachthof für Kleintiere. Dort schneidet man den Tieren die Halsschlagaderdurch, um sie zu töten. Vorher betäubt man sie zwar, doch sie spüren, was auf sie zukommt. Wohin man auch blickt, überall hängen tote Tiere. Vermutlich ist es noch schlimmer, als ich es dir beschreibe. Mehr kann ich dir nicht sagen. “
„Paul, wir müssen einen Plan schmieden, um diese schrecklichen Leute in eine Falle zu locken. Am besten mit einer Katze – so können wir vielleicht beweisen, dass sie nicht nur hinter dem seltsamen Verschwinden der Katzen stecken, sondern auch hinter dem der Waldhörnchen. In eurer Gartensiedlung wurde dieser Vorfall nie aufgeklärt. Es liegt an uns, das endlich zu ändern. Dieses Unheil, das die Tiere trifft, muss ein Ende haben. “
„Ja, Ben, du hast recht. Packen wir es an und legen ihnen das Handwerk! “
Wir schmiedeten stundenlang einen Plan und beschlossen, die Polizei einzuweihen. Am nächsten Morgen wollten wir gemeinsam alles melden. Doch Paul erschien nicht am vereinbarten Treffpunkt. Wut stieg in mir auf, der Ärger kochte. Das letzte Vertrauen, das ich in ihn hatte, war dahin. Nach langem Warten entschied ich, die Sache selbst in die Hand zunehmen. Zuvor wollte ich jedoch sicher sein, dass Paul die Wahrheit gesagt hatte. Also musste ich mir das Versteck der mutmaßlichen Sekte selbst ansehen. Erst dann würde ich zur Polizei gehen und alles aufdecken.
Als ich das vermutliche Versteck erreichte, erkannte ich das ganze Ausmaß des Verbrechens. In der Holzscheune stapelten sich Käfige, gefüllt mit Waldhörnchen und sogar zwei Katzen. An den Wänden und Metallgestellen hingen Tierfelle zum Trocknen. Die Scheune glich einem Schlachtfeld, überall klebte Blut. Die Tiere schrien vor Angst in einer Tonlage, die ich nie zuvor gehört hatte. Man spürte, dass sie ihr nahendes Ende ahnten.
Plötzlich entdeckte ich im hintersten Eck einen kleinen Käfig. Darin saß Sole, mein Lieblingswaldhörnchen. In diesem Moment verlor ich den Verstand und stürmte hinein, ohne nachzudenken. Kaum hatte ich die Scheune betreten, traf mich ein Schlag auf den Kopf. Alles wurde schwarz, und ich brach zusammen. Nach kurzer Zeit kam ich wieder zu mir. Verschwommen erkannte ich das Gesicht einer bösen Frau, die mir ein Messer an die Kehle drückte. Ich spürte den Schmerz, wie die Klinge langsam eindrang. Angstschweiß brach mir aus der Stirn, während ich um Gnade flehte.
In diesem Moment der Hilflosigkeit stürmte die Polizei die Scheune. Die Hexe ließ das Messer von meiner Kehle, warf es in eine Ecke unter die Käfige – doch es nützte ihr nichts. Wie die anderen in der Scheune wurde sie verhaftet. Die Polizei hatte die Bande schon lange im Visier und schlug im richtigen Augenblick zu. Für mich kam die Rettung in letzter Sekunde. Der Einsatzleiter befragte mich sofort vor Ort.
„Erzählen Sie, wie Sie in diese lebensgefährliche Lage gerieten. Es ist höchste Zeit, die Wahrheit zu sagen. Eine Lüge bringt nichts – wir haben Sie und die Bande schon länger beobachtet. “
In meinem Zustand öffneten sich plötzlich meine Augen und mein Verstand. Ich konnte wieder klar denken, und meine Einbildungen, meine Wahnvorstellungen, waren wie weggeblasen – vermutlich durch den Schock, der meinen vorherigen Zustand verdrängte. Ich antwortete auf die Frage des Polizisten, denn es war an der Zeit, zu allem zu stehen, was ich angerichtet hatte.
„Ich heiße Paul Brick und arbeite für die Städtische Gärtnerei am Wiener Zentralfriedhof. Die Anführerin dieser Bande –eine brutale, erbarmungslose Frau – hat mich erpresst. Sie drohte, mein Leben zu zerstören, wenn ich nicht gehorche. So wurde ich ihr Tierfänger und Lieferant, gegen Bezahlung. Ich hatte Angst, meine Frau und meinen Job zu verlieren – das konnte ich nicht riskieren. Das Geld nahm ich, um meine Spielschulden zu begleichen, wegen derer sie mich erpresste. In meiner Verzweiflung redete ich mir ein, jemand anderes zu sein: ein Fotograf. Diese Vorstellung half mir, das Leid der Tiere, das ich verursachte, besser zu ertragen.
Doch ich hatte nicht den Mut, zur Polizei zu gehen. Stattdessen klammerte ich mich an die Illusion, ein Fotograf zu sein, um meine Angst zu verdrängen. Heute jedoch fasste ich mir ein Herz. Ich ging zur Holzscheune, um nachzusehen, ob Tiere in den Käfigen waren. Mein Ziel war, die Bande auffliegen zu lassen, und das Verbrechen der Polizei melden. In der Hoffnung, meine Schulden abzuarbeiten, bevor meine Frau davon erfährt, war der größte Fehler meines Lebens. Ich bereue zutiefst, was ich den Tieren angetan habe, aber es ist zu spät. Das Einzige, was mich tröstet, ist, dass die Bande nun auf frischer Tat ertappt wurde und einige Tiere überlebt haben. “
Der grauenvolle Spuk war vorbei, und der Tierbestand am Zentralfriedhof erholte sich langsam. Selbst die freilaufenden Katzen der Siedlung Neugebäude kehrten zurück. Paul hingegen verlor seine Arbeit am Friedhof und musste zahlreiche Sozialstunden leisten, zu denen ihn das Gericht verurteilte. Seine Frau verzieh ihm jedoch all die Schandtaten, die er begangen hatte. Am Ende kaum zu fassen: Paul wurde mit großer Hingabe und Leidenschaft Fotograf.
Schlusswort
Die Vergangenheit bleibt unveränderlich, sie liegt hinter uns. Die Zukunft können wir nicht lenken, so sehr wir es uns wünschen. Doch hier und jetzt, wo auch immer du bist, kannst du tun, was in deiner Macht steht.
Kurzgeschichte aus Simmering
Andreas K.
(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht)