
Der alte Spiegel
Wer Elly kennt, weiß, dass sie meist mit einem Lächeln auftritt. Ihr rotes, langes Haar und ihre schlanke Figur fallen auf, sie misst etwa 165 cm. Gerade erst feierte sie ihren achtzehnten Geburtstag. Eine junge Frau voller Lebensenergie, wissbegierig und bildungshungrig. Immer freundlich, nett und hilfsbereit – so kennt man Elly. Doch vor wenigen Tagen erhielt sie eine schlechte Nachricht: Sie leidet an Kardiomyopathie, einer Erkrankung, bei der sich Struktur und Funktion des Herzmuskels verändern.
Seine Leistungsfähigkeit schwindet allmählich, was zu Herzinsuffizienz führen kann. Oft weiten sich die Herzkammern, das Herz vergrößert sich. So auch bei Elly. Doch sie ließ sich nicht entmutigen. Im Gegenteil, die Krankheit stärkte ihre Lebensfreude. Sie fragte sich: Wie werde ich wieder gesund? Was muss ich tun? Sie begann, gründlich zu recherchieren, sprach mit vielen Ärzten und las zahlreiche Bücher und Broschüren. Doch die Behandlungen brachten keine Besserung. Nicht einmal die täglichen Symptome wie Schwindel, Kopfschmerzen, Mundtrockenheit, Benommenheit und krankhafte Schläfrigkeit bekam sie in den Griff.
Die Bücher und Broschüren halfen ihr nicht weiter. Monate vergingen ohne Erfolg, während ihre Krankheit sich verschlimmerte. Jeden Tag ging es ihr ein wenig schlechter. Doch aufgeben? Das kam für Elly nicht in frage. Ihre Großmutter hatte ihr beigebracht, die Hoffnung nie aufzugeben und bis zum bitteren Ende zu kämpfen, denn manchmal geschehen Wunder. Elly wuchs bei ihrer Großmutter auf, die sie über alles liebte. Sie musste jedoch ein trauriges Schicksal bewältigen: Ellys Eltern starben, als sie zehn Jahre alt war, bei einem furchtbaren Verkehrsunfall. Auch Elly saß im Auto, das ihr Vater fuhr, doch wie durch ein Wunder blieb sie unverletzt.
Nach dem Umzug zu ihrer Großmutter in Simmering half Elly, wo sie konnte: im Haushalt, im Garten. Das Haus in der Gartensiedlung ist groß, mit fünf Zimmern, zwei Bädern und einer ausgebauten Mansarde. Die Einrichtung im Wiener Biedermeier Stil beeindruckt, besonders ein großer antiker Spiegel, in dem man sich von Kopf bis Fuß betrachten kann. Elly liebte es, sich darin zu spiegeln, oft stundenlang. Ihre Großmutter warnte sie scherzhaft:
„Elly, pass auf, sonst zieht er dich hinein und raubt dir deine Schönheit. “
Elly lachte:
„Großmutter, du willst mir nur Angst machen. “
Doch die Großmutter entgegnete:
„Nein, er braucht deine Schönheit, denn sein Bild wird trüb. Man sagt, alte Spiegel rauben Frauen die Schönheit. “
Neugierig fragte Elly:
„Woher stammt der Spiegel? “
Die Großmutter antwortete:
„Meine Eltern kauften ihn vor vielen Jahren in einem Altwarengeschäft. “
Der Spiegel ist sehr alt, Elly, doch sein genaues Alter bleibt ein Geheimnis. Meine Mutter erzählte, der Verkäufer habe ihr beim Kauf gesagt: "Liebe Dame, verweilen Sie nicht zu lange vor dem Spiegel. Er hat schon mancher Frau die Schönheit gestohlen." Sie hielt das für ein Kompliment. Doch damals verschwanden in der Umgebung auf mysteriöse Weise einige Frauen. Seit meine Eltern den Spiegel besitzen, geschah dies hier jedoch keiner Frau mehr. Ich sprach meine Mutter darauf an, und sie antwortete:
Das ist nur ein Zufall, mein kleines Mädchen, deine Fantasie geht mit dir durch. Bitte erzähle es nicht weiter, sonst halten dich alle für dumm. Meine Mutter nahm mich damals nicht ernst. Doch der Verdacht begleitet mich bis heute. Obwohl Jahrzehnte vergingen und nichts geschah, bleibe ich nie lange vor dem Spiegel stehen. Elly, ich misstraue meinem Spiegel, doch seine Schönheit fasziniert mich. Ich kann mich einfach nicht von ihm lösen. Darum bitte ich dich, sei vorsichtig, denn etwas stimmt nicht mit ihm.
„Großmutter“, ich glaube dir, auch ich habe diesen Verdacht. Manchmal spüre ich seine Blicke auf mir. Doch statt Angst empfinde ich Freude und Hoffnung, wenn ich ihn sehe. Er hat etwas Anziehendes, Verführerisches. Vielleicht steckt eine magische Kraft in ihm, wer weiß, Großmutter.
Seit ihrer Krankheitsdiagnose schläft Elly schlecht. Albträume voller Angst erschüttern sie zutiefst. Jede Nacht wacht sie schweißgebadet auf. Ihr erster Blick gilt stets der Uhr im Schlafzimmer. Seltsamerweise zeigt sie seit kurzem immer 2Uhr 22 an. Das erscheint ihr merkwürdig.
Vom Durst getrieben, geht sie direkt in die Küche. Mit einem Glas Wasser in der Hand betrat sie danach das Esszimmer und setzte sich an den Tisch, den Blick fest auf den Spiegel gerichtet. Nach etwa einer Stunde starren Blicks schlief sie ein und erwachte erst am frühen Morgen wieder am Tisch. Fast jede Nacht wiederholte sich dieses Ritual. Bis zu jener Nacht, als sie zur gewohnten Zeit im Spiegel den Schatten einer vorbeifliegenden Krähe sah. Erschrocken zuckte sie zurück, während eine kalte Brise ihren leicht verschwitzten Nacken streifte. Vor Angst erstarrt, sprach sie zum Spiegel.
„Wow“, was war das? War das wirklich der Schatten einer Krähe, der im Spiegel vorbeiflog? Nein, das kann nicht sein, ich habe es mir sicher nur eingebildet. Ich hoffe, dass ich träume. Sonst verliere ich womöglich den Verstand. Sie tastete ihr Gesicht und den Körper ab.
„Nein“, verdammt, ich habe nicht geträumt, ich spüre meinen Körper. Also ist es wirklich geschehen. Verrückt, was nun? Großmutter glaubt mir das nie. Wenn ich es ihr erzähle, gibt sie den Spiegel sicher weg. Da ich das nicht will, muss ich schweigen.
Elly starrte bis in die frühen Morgenstunden in den Spiegel. Doch nichts geschah, kein Schatten erschien. Auch in den folgenden zwei Nächten blieb der Spiegel leer. In der dritten Nacht wandte sie sich gerade ab, als sie im Augenwinkel etwas im Spiegel bemerkte. Sie drehte sich um und traute ihren Augen kaum. Fassungslos murmelte sie:
„Ein Schriftzug?“ Er lautete: „Tritt ein, gehe durch den Spiegel, dann wirst du wieder gesund. “ Wer hatte das geschrieben? Was bedeutete es? War es ein Scherz?
Wenn ja, fand sie ihn nicht lustig. Sie schrie erschrocken in den Spiegel und schüttelte ratlos den Kopf.
Plötzlich erschien eine weitere Nachricht:
„Wir wollen dir helfen, wenn du es zulässt. “
„Wer seid ihr? Geister oder so etwas? “
„Nein, wir sind keine Geister. Wir sind Menschen wie du. Wir leben in einem heilenden Wald, den du nur durch den Spiegel erreichen kannst. Der Spiegel ist ein geheimes Tor, das direkt in den Wald führt. “
„Das ist lächerlich. Soll ich euch das glauben? Ihr macht mir große Angst. “
„Bitte, hab keine Angst. Uns erging es einst wie dir. Doch du musst selbst entscheiden, ob du geheilt werden willst. Das Tor bleibt nicht lange offen. Tritt jetzt in den Wald und überzeuge dich selbst. “
„Mir fehlt der Mut, und meine Angst ist zu groß. “ Jetzt noch mehr, da du irgendwie weißt, dass ich schwer krank bin.
„Elly, diese Chance bekommst du nur einmal im Leben. Verdränge deine Angst und tritt ein, bevor es zu spät ist. “
„Warte, du kennst meinen Namen. Woher? “
„Elly, du sprichst jeden Tag in den Spiegel. Wenn du das tust, hören es alle im Wald. Für uns klingt es wie ein Echo. “
„Wie heißt du, der hinter dem Spiegel? “
„Ich heiße Ben. Ich bitte dich ein letztes Mal, Elly, geh durch den Spiegel und lass uns dir helfen. Das Tor schließt sich gleich, bitte geh durch. “
Elly überwand ihre Angst und trat durch den Spiegel. Zuerst mit der rechten Hand, dann mit dem Kopf, schließlich mit dem ganzen Körper.
„Unglaublich, ich habe es gewagt und bin hindurchgegangen. “ Was für ein aufregender Moment. Der Anblick des Waldes hier ist einfach bezaubernd.
Vor Staunen blieb Elly stehen und wiederholte immer wieder, wie schön es hier sei.
„So etwas Schönes sieht man nur in Träumen. “ In diesem Wald blüht alles, was man sich vorstellen kann, in prächtigen Farben. Und der Duft, einfach unglaublich.
„Ja, Elly“, sagte eine Stimme, „deine Augen und dein Geruchssinn täuschen dich nicht. Alles, was du siehst und riechst, ist real. Ich bin Ben, die Stimme hinter dem Spiegel. “
„Hallo Ben“, ich kann es kaum fassen. Es ist verrückt, einfach zu wundervoll, um es zu begreifen.
„Lass dir Zeit, Elly. Du bist gerade angekommen. Genieße den Anblick und atme die frische Waldluft ein. Bald wird es dir bessergehen. “
„Ben, schon nach wenigen Atemzügen spüre ich, wie gut mir diese Luft tut. Dieser Wald scheint wirklich heilende Kräfte zu haben. Sag mir die Wahrheit: Träume ich, oder geschieht das wirklich? Bist du überhaupt menschlich, oder steckt etwas Übernatürliches in dir? “
„Nur Gutes fließt durch meinen Körper, Elly, und ja, ich bin ein Mensch. Alles, was du hier siehst, geschieht wirklich. Es ist ein Ort, der keine Krankheit kennt. Jeder, der ihn betritt, spürt bald nichts mehr von seiner Krankheit. “
„Du hast recht, Ben, ich spüre meine Krankheit nicht mehr. “ Es fühlt sich an, als wäre ich nie krank gewesen. In mir gewinnt die gesunde Energie die Oberhand, so empfinde ich es. Ich merke sogar, wie sich meine blasse Haut erholt.
„Genau, Elly“, deine gesunde Energie kehrt zurück und verdrängt die Krankheit in dir. Lass es geschehen und genieße diesen Prozess. Er gibt dir deine Lebensenergie zurück. Elly, das Ende deines Daseins schien nah, ist dir das bewusst?
„Ich weiß, Ben, meine Zeit wäre bald gekommen. “ Umso mehr verstehe ich nicht, warum ich die Krankheit plötzlich nicht mehr spüre.
„Was gerade mit dir geschieht, übersteigt deinen Verstand, Elly. “ Der Zweifler hadert mit sich selbst. Der heilende Wald liegt unter einer durchsichtigen Kuppel aus weißer Magie, die das Waldwesen, die Heilerin der Hoffnung, erschuf. Sie schuf diesen Wald, um kranken Menschen zu helfen. Warum sie das tut, wissen wir nicht. Sie lebt allein mit einer Krähe in einer alten Hütte aus Baumstämmen, Ästen und Moos. Die Hütte steht am Bach, durch den Heilwasser fließt. Die Krähe weicht ihr nie von der Seite. Das Gesicht der Heilerin bleibt verborgen, da sie stets einen Hut mit weißem Netz trägt. Warum sie ihr Gesicht verbirgt, weiß niemand. Ihre Stimme ist außergewöhnlich tief, vielleicht sogar ein wenig erschreckend. Doch möchte ich dir keine Angst machen. Schließlich wirst du dir selbst ein Bild von ihr machen. Lass uns zu ihr gehen, sie möchte dich willkommen heißen.
„Ja, Ben, lass uns zu ihr gehen. “ Doch ein wenig aufgeregt bin ich schon.
„Das waren wir alle, als wir ihr das erste Mal begegneten. “
Kurz vor der Hütte kam ihnen die Heilerin entgegen.
„Hallo Elly, darf ich mich vorstellen? Man nennt mich die Heilerin. “
„Freut mich sehr, Frau Heilerin. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. “
„Ich hoffe nur Gutes, Elly, sonst wäre ich von Ben sehr enttäuscht. “
„Natürlich nur Gutes, Frau Heilerin. Ich bin beeindruckt von dem, was Sie hier geschaffen haben. “
„Dann hör jetzt gut zu, Elly, was ich dir zu sagen habe. “ Die Nebelkrähe führt dich zu den Kräutern, die deine Gesundheit fördern. Auch die heilenden Beerensträucher und Honigwaben wird sie dir zeigen. All das heilt dich schnell, wenn du es nutzt. Du kannst für immer im Wald bleiben, wenn du willst. Entscheidest du dich jedoch zurückzukehren, musst du über den heilenden Wald schweigen. Du darfst das Heilwasser des Baches nicht mitnehmen, ebenso wenig die gepflückten Heilkräuter, Beeren und Honigwaben. Sie sind nur für hier bestimmt und würden uns in der anderen Welt verraten. Sprich mit niemandem darüber und zeige niemandem den Spiegel, sonst kehrt deine Krankheit zurück. Es gibt einen Waldschwur, den du aussprechen musst, um das Tor zu öffnen. Ich sage ihn dir nur einmal vor:
"Die im Wald und die noch kommen, sind für immer hier willkommen. Doch wer geht, muss ewig schweigen, sonst wird die Krankheit ihn wieder erreichen."
Sprich ihn genau so aus, du hast nur einen Versuch. Bei einem Fehler bleibt das Tor für dich verschlossen. Das sind die Regeln, bitte halte dich daran, Elly.
„Das werde ich sicher tun, Frau Heilerin. “
„So soll es sein, Elly. Folge nun der Krähe. “
Die Krähe führte sie tiefer in den Wald zu den richtigen Kräutern, Beeren und Honigwaben, die gegen ihre Krankheit helfen sollten. Elly begann sofort mit Ben zu pflücken und aß dabei so viel, wie sie konnte. Danach zeigte Ben ihr seinen Lieblingsplatz im Wald, den er wählt, wenn er allein sein möchte.
„Oh Ben, dieser Platz ist wirklich wunderschön. “ Die Lichtung mit den hellen Sonnenstrahlen ist atemberaubend. Jetzt verstehe ich gut, warum du dich hier gerne zurückziehst. Ben, wie bist du in diesen Wald gelangt?
„Wie du, nur durch ein anderes Spiegeltor. “
„Also gibt es mehrere Tore? “
„Ja, genau vier. Die Heilerin erzählte uns davon: eines im Osten, Süden, Westen und Norden. Ich kam mit meiner Mutter durch das Tor im Süden. “
„Ihr seid beide hindurchgegangen? “
„So kann man es sagen. Meine Mutter war damals schwanger mit mir. Sie sagte, ich hätte nicht überlebt, wäre sie nicht durch den Spiegel gegangen. “
Die Heilerin erschien ihr im Spiegel und zog sie in den Wald. In der Mitte der Schwangerschaft hörte ich auf, zu wachsen.
Die Ärzte gaben mir keine Überlebenschance. Doch die Heilerin heilte mich, noch bevor ich geboren wurde. Sonst wäre ich sicher im Mutterleib gestorben.
„Wie schrecklich, aber das Wichtigste ist, du lebst. “ Ben, ist jemals jemand zurückgegangen? Bitte sag mir die Wahrheit.
„Soweit ich weiß, nein, Elly, noch niemand. “ Alle, die ich fragte, auch meine Mutter, kennen niemanden, der zurückging.
„Ben“, als ich durch das Tor ging, markierte ich die Stelle. So finde ich sie leichter, wenn ich zurückgehe. Liegt das Tor vielleicht im Süden?
„Nein“, du kamst durch das Tor im Osten, Elly. Von allen Toren ist es das seltsamste. Denn, wie ich hörte, kam seit vielen Jahren niemand mehr hindurch.
„Wenn das so war, Ben, dann ist es wirklich seltsam. “ Es ist zwar wunderschön hier, doch es scheint, als könne niemand den Ort verlassen.
„Ja, vermutlich hast du recht, Elly. “ Ich hege schon lange den selben Verdacht. Und was noch seltsamer ist: Ich bin der einzige Mann hier im Wald.
„Oh, Ben, das wird immer seltsamer. “ Als du Frauen erwähnst, erinnere ich mich an die Geschichte meiner Großmutter. Vor langer Zeit verschwanden in unserer Gegend viele Frauen spurlos. Bis heute fehlt jede Spur von ihnen. Doch seit der Spiegel in unserer Familie ist, verschwand keine Frau mehr.
Könnte es sein, dass die anderen gar nicht mehr wegwollen?
„Ja, Elly, ich fürchte, keiner von uns will den Wald noch verlassen. “ Wir sind schon viel zu lange hier. Wo meine Mutter herkommt, wartet wahrscheinlich niemand mehr auf sie. Und mich kennt dort ohnehin keiner. Den anderen geht es vermutlich genauso. Sie suchten wie wir lange nach dem Tor, das uns nach Hause führt. Doch keiner fand es. Deshalb konnten wir den Schwur nie aufsagen. Mit der Zeit gaben wir auf und arrangierten uns damit, hier zu leben.
„Oh“, jetzt fürchte ich, das Tor nicht mehr zu finden.
„Keine Sorge, ich helfe dir, es wiederzufinden. “ Du warst klug genug, die Stelle zu markieren. Das hat vor dir noch niemand geschafft, Elly.
„Danke, Ben. Wie spät ist es eigentlich? Ich möchte zu Hause sein, bevor meine Großmutter aufwacht. “
„Leider weiß ich es nicht genau, Elly. Die Zeit hier ist seltsam. Wir mussten uns daran gewöhnen, dass sie langsamer vergeht als bei dir zu Hause. Es wird nie dunkel, wir haben ständig Tageslicht. Deshalb interessiert sich hier kaum jemand für die Uhrzeit. “
„Dieser Ort birgt viele Geheimnisse, Ben, die mir unheimlich erscheinen. “ Trotzdem freue ich mich, hier zu sein.
„Ich verstehe deine Meinung vollkommen, Elly. “ Willst du uns wirklich schon wieder verlassen?
„Ja, Ben, ich muss zu meiner Großmutter zurück. “ Ich kann sie nicht allein lassen. Sie wäre sehr traurig und könnte vor Kummer sterben. Das würde mich krank machen. Deshalb muss ich zurück. Ben, ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen – so einfühlsam und warmherzig. Jetzt zu gehen, schmerzt mein Herz wie nie zuvor. Dieses Gefühl für dich macht es mir unglaublich schwer, zu gehen.
„Mir geht es wie dir, Elly, mit den Gefühlen. “ Deshalb sollten wir sofort das Tor suchen, durch das du kamst, bevor es zu spät ist und du aus irgendeinem Grund hierbleiben musst.
„Ja, Ben, lass uns zum Tor aufbrechen und die Markierung finden. “
Nach einem langen Weg erreichten sie gemeinsam den Ort, an dem das Tor sein sollte.
„Elly, hier hast du den Wald betreten. “
„Bist du sicher, Ben? Ich sehe meine Markierung nicht. “
„Bleib ruhig, Elly, und erinnere dich genau, wo du die Stelle markiert hast. Wie sieht die Markierung aus? “
„Es ist mein schwarzes Lederarmband mit einem geflochtenen Muster. Ich hatte es an diesem Strauch festgebunden. “
Beide suchten aufgeregt nach dem Armband, bis Ben es unter den abgefallenen Blättern entdeckte.
„Elly, ich glaube, ich habe es gefunden. Schau her, ist das dein Armband? “
„Ja, Ben, das ist mein schwarzes Lederarmband. Das bedeutet, wir sind am richtigen Ort. Du hast den magischen Platz entdeckt. Jetzt muss sich nur noch das geheime Spiegeltor öffnen. “
„Ich hoffe, Elly, du erinnerst dich an den Waldschwur. Er muss wortgenau stimmen. “
„Ich weiß, Ben, sonst bleibt das Tor für immer verschlossen. Bitte komm mit mir in meine Welt zurück. Dort, wo ich lebe, können wir gemeinsam glücklich sein. “
„Das geht leider nicht, Elly, so gerne ich es auch möchte. “ Ich kann meine Mutter nicht allein lassen; mein Gewissen erlaubt es nicht. Sie hat alles für mich geopfert, um mich zu retten. Ich muss hierbleiben, das ist mein Schicksal. Doch die wunderbare Erinnerung an dich bleibt mir. Eine so wundervolle junge Frau wie du werde ich nie vergessen.
Elly konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Mit schluchzender Stimme sagte sie:
„Dafür werde ich sorgen, denn ich werde jeden Tag in den Spiegel sprechen, so laut, dass du mich hören kannst. Ben, ich hoffe, nein, ich bete, dass wir uns irgendwann wiedersehen. “
Ben umarmte sie ein letztes Mal und küsste sie zum Abschied.
„Elly, es ist Zeit zu gehen. Du musst den Schwur sprechen. “
„In Ordnung, Ben, ich spreche ihn jetzt. “ Die im Wald und die noch kommen, sind für immer hier willkommen. Doch wer geht, muss ewig schweigen, sonst wird die Krankheit ihn wieder erreichen.
Nach dem Schwur legte sich eine unheimliche Stille über den Wald. Kein Laut war zu hören.
„Ben, es ist so seltsam still. Man kann unsere Herzen schlagen hören. “
„Ja, ich höre es auch. So eine Stille hatten wir noch nie. “
„Was bedeutet das, und warum öffnet sich das Tor nicht? “
„Bleib ruhig, Elly, verliere nicht die Nerven. “ Ich hoffe, das Tor erscheint jeden Moment.
„Ich hoffe, du hast recht, Ben. “ Bitte, magischer Spiegel, öffne dein geheimes Tor für mich.
Plötzlich zog ein leichter Nebel auf. Bald darauf zeigte sich das geheime Spiegeltor.
„Deine Bitte wurde erhört, Elly, das Tor hat sich geöffnet. Geh sofort hindurch, es bleibt nicht lange offen. “
„Ja, Ben, es ist so weit, ich gehe jetzt durch das Tor. “
Elly ging rückwärts durch das Tor, um Ben so lange wie möglich anzusehen. Er hielt ihre zitternden Hände. Kurz bevor sie ganz hindurch war, rief sie:
„Ben, du bleibst für immer in meinem Herzen. Danke, dass du mich überredet hast, durch den Spiegel zu gehen. Ohne dich hätte ich den Mut nicht gefunden. Du hast mein Leben gerettet. Danke, Ben. “
Das waren Ellys letzte Worte an Ben. Zugleich ließ Ben ihre zitternden Hände los. Elly verschwand durch das geheime Spiegeltor, das sich sofort in Luft auflöste. Zu Hause angekommen, sah sie auf die Uhr: Es war vier Uhr morgens. Elly setzte sich an den Esstisch und blickte immer wieder in den Spiegel. Sie verhielt sich leise, um die Großmutter nicht zu wecken. Bald schlief sie vor Müdigkeit ein und träumte intensiv. Im Traum rief sie laut:
"Ben, ich danke dir."
Großmutter, die sehr empfindlich hört, erwachte durch den Lärm. Sie erkannte sofort Ellys Stimme und eilte besorgt ins Esszimmer, von wo die Rufe kamen. Dort fand sie Elly schlafend am Tisch und weckte sie behutsam.
„Elly, bist du wieder hier eingeschlafen? Du weißt doch, das tut dir nicht gut. “ Diese gekrümmte Haltung verursacht dir später heftige Schmerzen. Oh Elly, dein Gesicht sieht
„Was ist mit meinem Gesicht, Großmutter? “
„Es strahlt in einer so freundlichen Hautfarbe. “ Du wirkst glücklich und gesund. Elly, du siehst aus, als wärst du nie krank gewesen.
„Ja, Großmutter, genau so fühle ich mich jetzt. “ Ich bin überzeugt, meine Krankheit ist verschwunden. Mein Körper fühlt sich jung, kraftvoll und schmerzfrei an. Es ist wundervoll, keine Schmerzen mehr zu spüren. Bitte weine nicht, Großmutter, freu dich lieber für mich.
„Elly“, ich tue das aus tiefstem Herzen, das sind Freudentränen. Ich begreife es noch nicht ganz. Jahrelang warst du unheilbar krank, und nun bist du über Nacht gesund. Was ist mit dir geschehen? Hat es vielleicht mit dem Spiegel zu tun, von dem du deinen Blick nicht lösen kannst?
„Großmutter, es ist ein unglaubliches Wunder geschehen“. Bitte, glaub mir, Ich habe es erlebt. Doch leider darf ich dir nichts davon berichten.
Schlusswort
Wunder geschehen oft, wenn wir die Hoffnung längst aufgegeben haben. Denn auch Wunder brauchen Zeit. Wir müssen nur daran glauben.
Kurzgeschichte aus Simmering
Andreas K.
(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht )