
Das Licht der Hoffnung
Wenn in Kaiserebersdorf das Licht am Turm der alten Kirche aufleuchtete, wusste jeder in Simmering: Gefahr auf der Donau. Ein uralter Brauch, älter als die meisten Häuser des Ortes, verpflichtete den Küster, das Licht zu entzünden, sobald jemand auf dem Fluss in Not war. Doch oft blieb der Grund für diese Not im Verborgenen.
Die Donau war hier anders als anderswo.
Unberechenbar. Tief. Uralte Macht.
Zwischen dem Alberner Hafen und dem Friedhof der Namenlosen schien sie einen eigenen Willen zu haben. Als wüsste sie mehr als die Menschen an ihren Ufern. Als würde sie beobachten, lauschen, warten. Und die, die sie verschlang, trieb sie manchmal bis zu jenem seltsamen Ort: dem Friedhof der Namenlosen.
Dort, wo verwitterte Holzkreuze dem Wind trotzten und eiserne Gedenktafeln an jene erinnerten, die niemand vermisst hatte oder die niemand finden konnte.
Doch manche sagten, auf diesem Friedhof blieben nicht nur Erinnerungen zurück. Etwas Lebendiges sei dort, etwas, das nicht ganz zu dieser Welt gehöre.
Oli war siebzehn und kannte die Donau so gut, wie andere die Straßen ihrer Stadt. Oft hatte er seinen Onkel Jörg, den Schiffsmeister, auf dem alten Schleppkahn *Sturmbrecher* begleitet. Seit Monaten träumte er davon, selbst das Steuer zu übernehmen. Doch an diesem Abend wurde sein Traum zum Albtraum.
Die *Sturmbrecher* war spät dran. Eine Ladung hatte sich in Enns verzögert, und nun mussten sie sich beeilen, um rechtzeitig Wien zu erreichen. Es war dunkel, und silberner Nebel kroch wie Finger über die Wasseroberfläche. Jörg wollte umkehren – doch die Zeit drängte.
„Die Donau trägt heute niemanden“, murmelte der alte Schiffsmeister.
Oli kannte diese Worte. Eine Warnung, ein Aberglaube, hatte er immer gedacht. Doch heute spürte er etwas.
Unruhe. Ein Druck in der Brust. Als ob der Fluss ihn beobachtete.
Es geschah schneller, als Oli es später beschreiben konnte. Ein Krachen, ein Dröhnen unter dem Rumpf. Ein Ruck, so heftig, dass die Lampen schwankten. Ein Schrei – war es seiner oder der seines Onkels?
„Halt dich fest! “, brüllte Jörg.
Doch da riss die Donau den Jungen schon mit sich. Eiskaltes Wasser drückte gegen seine Brust. Ein Strudel aus Schlamm, Holz, Schilf und schwarzer Tiefe wirbelte ihn umher. Er sah die Sturmbrecher über sich treiben. Sah den Nebel. Sah das rötliche Schimmern des Kirchturmlichts in der Ferne. Dann wurde alles dunkler. Kälter. Bis ein Licht unter der Oberfläche aufflammte. Ein Licht, das nicht vom Himmel kam.
Oli wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war. Er lag auf weichem Boden, das fühlte er. Der Geruch von feuchter Erde, Moos und verwittertem Holz stieg ihm in die Nase. Langsam öffnete er die Augen. Über ihm stand der Mond—hell, rund und unnatürlich groß, als wäre er näher gerückt. Zwischen den kahlen Weidenästen glitzerte das Wasser. Und hinter ihm… standen Reihen von Kreuzen.
Er lag auf dem Friedhof der Namenlosen.
Ein Schaudern durchfuhr ihn. Oft hatte er Geschichten über diesen Ort gehört—von Wasserleichen, die hier strandeten, von unheimlichen Lichtern in der Nacht und einem Wächter, der keiner lebenden Seele gehörte. Da raschelte es im Gebüsch.
„Ist da… jemand? “, flüsterte Oli.
Zunächst blieb es still. Dann trat eine Gestalt aus dem Schatten. Schlank war sie, fast durchsichtig im Mondlicht. Ihr Haar glänzte wie nasses Schilf. Die Augen schimmerten in der Farbe der Donau vor einem Sturm—grau, tief, unergründlich. Ihre Kleidung wirkte, als bestünde sie aus Wasserfäden, die nie ganz trockneten.
„Du bist anders als die anderen“, sagte sie. Ihre Stimme klang wie Wind, der über Wasser streicht.
„Wer… wer bist du? “
Sie neigte den Kopf.
„Ich bin die, die wacht. “
„Der… der Wächter? “, stotterte Oli.
Ein kaum merkliches Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Wenn du es so nennen willst. “
Die Gestalt setzte sich neben ihn auf den feuchten Boden. Als sie ihre Hand auf die Erde legte, rann Wasser aus ihren Fingern, doch die Erde sog es sofort auf, als hätte sie darauf gewartet.
„Was ist mit mir passiert? “, fragte Oli.
Sie sah ihn lange an, als wollte sie prüfen, ob er die Antwort ertragen konnte.
„Die Donau hat versucht, dich zu holen. “
„Warum? “
„Sie nimmt, wen sie will. Doch manchmal… bringt sie jemanden zu mir. “
Ihr Blick wanderte zu den hölzernen Kreuzen, die im Wind knarrten.
„Die meisten, die hierherkommen, haben keinen Atem mehr. Keinen Namen. Aber du hast noch deinen Weg. Deshalb habe ich dich geholt. “
Oli fröstelte.
„Bist du … ein Geist? “
„Ein Geist. Ein Flusswesen. Eine Erinnerung. Eine Warnung. “
Sie lächelte kaum sichtbar. „Nenn mich, wie du willst. Ich bin hier, seit der erste Mensch von der Donau getragen wurde. Und ich werde bleiben, bis niemand mehr ihren Ruf hört. “
„Wie heißt du? “
Ein leiser Wind strich über die Gräber.
„Ich habe viele Namen. Doch einst nannte man mich Mara. “
Mara erhob sich und gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen.
„Die Donau ist heute unruhig. Sie hat dir etwas gezeigt. Du hast es nur noch nicht begriffen. “
Oli schüttelte den Kopf, verwirrt. „Ich habe nichts gesehen, nur Wasser und Dunkelheit. “
„Oh doch“, flüsterte Mara. „Du hast das Herz des Flusses gesehen. “
Sie führte ihn zum Ufer. Die Donau floss ruhig dahin—zu ruhig. Als hielte sie ein Geheimnis verborgen.
„Seit Jahrhunderten gibt es hier Strudel, tiefer als die Erinnerung der Menschen. Einst waren sie Tore. “
„Tore? “
„Zwischen dem, was ist … und dem, was vergessen wurde. “
Sie legte die Hand auf die Wasseroberfläche. Ein silbriges Leuchten breitete sich aus, als würde der Fluss antworten. Dann stieg ein Bild auf—verschwommen, aber erkennbar:
Ein Schiff. Ein großer Raddampfer. Menschen an Bord, panisch. Ein Bruch im Rumpf.
Schreie.
„Was ist das? “, keuchte Oli.
„Ein Unglück, das geschieht, wenn du nichts tust. “
„Ich? Wieso ich? Ich bin nur ein einfacher Seemann! “
Mara legte einen kühlen Finger auf seine Stirn.
„Weil du der Einzige bist, den die Donau zurückgegeben hat. “
Oli spürte eine Schwere, die Angst übertraf. Zweifel mischten sich mit einem drängenden Verantwortungsgefühl.
„Was soll ich tun? “
„Warnen. Verhindern. Handeln. “
Sie deutete auf das Bild im Wasser.
„Dieses Schiff wird morgen früh den Hafen passieren. Ein verborgener Schaden im Maschinenraum wird eine Explosion auslösen. Der Strudel, der dich verschlungen hat, wird stärker, wenn das Schiff zerbricht. Viele werden sterben. “
Oli schnappte nach Luft.
„Aber… woher weißt du das alles? “
Mara blickte in die dunklen Weiten des Flusses.
„Ich bin die Erinnerung der Donau. Alles, was sie genommen hat, alles, was sie geben wollte… lebt in mir. “
Sie sah ihn wieder an.
„Du musst zurück. Du musst dein Leben behalten. Viele andere haben ihres schon verloren. “
„Und du? “, fragte Oli leise.
Ihre Augen verdunkelten sich.
„Ich habe mein Leben längst verloren. “
Bevor Oli nachhaken konnte, legte Mara ihm die Hände auf die Schultern. Ein kühler Strom durchzog seinen Körper, als würde reines Flusswasser durch seine Adern fließen.
„Ich gebe dir einen Teil meiner Kraft. Nicht viel – doch genug, um Gehör zu finden bei denen, die nicht zuhören wollen. “
Ein bläuliches Leuchten umspielte seine Hände.
„Was ist das? “
„Der Ruf des Flusses. Er lässt dich spüren, wo Gefahr lauert. Und er zeigt dir, wo du sein musst. “
Sie trat einen Schritt zurück.
„Doch sei gewarnt: Wer ein Geschenk vom Fluss annimmt, muss etwas zurückgeben. “
„Was… muss ich geben? “
„Das entscheidet die Donau. Aber sie fordert nur, was du tragen kannst. “
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Mara führte ihn ein Stück in den Wald, bis zu einem schmalen Pfad, der zum Hafen führte.
„Hier trennen sich unsere Wege. “
„Werde ich dich wiedersehen? “, fragte Oli.
Sie lächelte traurig.
„Nur, wenn du zwischen die Welten fällst. “
Dann löste sich ihre Gestalt in feinen Nebel auf. Der Wind trug ihn davon. Zurück blieb nur das Flüstern der Donau, das heute wie ein leises Lied klang.
Oli rannte, so schnell er konnte. Fort vom Friedhof, hin zu den Lebenden. Der Morgen dämmerte, als er den Hafen erreichte.
Jörg umarmte ihn fest, Tränen in den Augen. Die ganze Nacht hatte er nach ihm gesucht, zusammen mit der Polizei und den Hafenarbeitern. Niemand glaubte, der Junge könnte noch leben. Doch jetzt standen sie da, Onkel und Neffe, und Oli wusste, er musste sprechen.
„Onkel… heute wird es ein Unglück geben. Ein Schiff, der Raddampfer *Wilhelmine*. Etwas ist kaputt. Im Maschinenraum. “
Jörg starrte ihn fassungslos an.
„Wie kommst du darauf…? “
Oli erzählte alles. Oder fast alles. Von der Strömung. Vom Strudel. Von einem Licht im Wasser. Mara verschwieg er.
Jörg, ein Mann des Flusses, erkannte, dass der Junge die Wahrheit sagte. Gemeinsam gaben sie die Warnung weiter. Doch die Hafenleitung blieb skeptisch. Die *Wilhelmine* sei geprüft, sagten sie. Die Maschine einwandfrei. Kein Grund zur Panik.
Da spürte Oli das blaue Schimmern wieder in seinen Händen brennen. Er rannte zum Pier, sprang auf das Schiff, bevor es ablegen konnte.
Er schrie. Flehte. Warnte. Diesmal hörte der Kapitän zu. Sie öffneten den Maschinenraum. Und dort, zwischen zwei Rohrleitungen, schimmerte ein feiner Riss. Kaum sichtbar, aber tödlich.
Hätte das Schiff Fahrt aufgenommen, wäre es hunderte Meter weiter explodiert.
Der Kapitän, blass und dankbar, drückte Olis Hand.
„Junge, du hast Leben gerettet. “
Oli nickte, doch etwas nagte an ihm. Ein unsichtbarer Druck lastete auf seiner Brust. Als er zur Donau hinabblickte, schien der Fluss zu lächeln.
„Du hast gegeben“, flüsterte eine Stimme in ihm.
„Nun nehme ich. “
Ein Schwindel packte ihn. Er klammerte sich ans Geländer. Die Welt verschwamm, doch er hielt stand. Der Moment verging, und die Stimme verstummte.
In den Wochen danach spürte Oli Veränderungen. Nicht an seinem Körper, sondern tief in sich. Er hörte den Fluss –wirklich hörte ihn. Sein Rauschen brachte Botschaften, sein Strömen warnte, sein Schweigen drohte. Oli spürte, wo jemand ins Wasser stürzen würde, wo gefährliche Wirbel lauerten. Zweimal rettete er Menschen, die sonst ertrunken wären. Doch jedes Mal verlor er etwas. Ein Faden seiner Kraft kehrte zur Donau zurück.
Er wusste: Das war der Preis. Und er zahlte ihn ohne Zögern.
Eines Nachts, ein halbes Jahr nach dem Unglück, weckte ihn ein kalter Wind. Er roch nach Moos und Wasser.
„Mara…“
Noch bevor er aufstand, wusste er, wohin er musste: zum Friedhof der Namenlosen. Der Mond hing rot und tief am Himmel. Die Donau wühlte. Am Ufer, zwischen den Kreuzen, sah er sie. Mara. Doch sie wirkte schwächer, durchscheinender als zuvor.
„Du hast getan, was ich dir sagte“, flüsterte sie. „Mehr noch. Du hast viele gerettet. “
„Aber du… was ist mit dir, Mara? “
Sie lächelte matt.
„Ich verblasse. “
„Warum? “
„Weil du meinen Platz einnimmst. “
Ein eisiger Schauer durchfuhr ihn.
„Nein! Das kann nicht sein! Ich bin ein Mensch! Ich gehöre nicht hierher! “
„Die Donau wählt nicht nach Herkunft, sondern nach Herz. “
Er schüttelte den Kopf.
„Ich will nicht… wie du werden. Ich will leben. “
„Dann lebe“, sagte Mara leise. „Aber der Fluss wird dich immer rufen. Und du wirst ihn immer hören. “
Sie trat einen Schritt zurück.
„Ich gehe jetzt. Endlich. Du hast mich befreit. Doch bevor ich gehe, will ich dir etwas geben. “
Ihre Hand berührte seine Stirn.
Ein warmer Strom durchflutete seinen Körper – anders als zuvor. Nicht kalt. Nicht unheimlich. Sondern tröstend. Als er die Augen öffnete, war Mara verschwunden. Nur der Wind flüsterte ihren Namen.
Jahre vergingen.
Oli wurde ein erfahrener Bootsführer, ein Mann der Donau. Jeder kannte ihn, jeder vertraute ihm. Wenn er warnte, hörte man auf ihn, auch wenn niemand begriff, woher er seine Gewissheit nahm. Doch manchmal, in besonders stillen Nächten, wenn Nebel über dem Friedhof der Namenlosen lag, sah man eine Gestalt am Ufer. Schlank. Mit nassem Haar, das im Mondlicht schimmerte.
War es ein Mensch? Oder ein Flusswesen? Niemand wusste es. Nur einer kannte die Wahrheit.
Oli.
Denn jedes Mal, wenn er dort stand und auf den Fluss blickte, spürte er es: Die Donau sprach noch immer zu ihm. Und tief in seinem Herzen glomm ein warmes Licht – das Licht der Hoffnung.
Die Jahre vergingen schnell und still, bis er plötzlich den Ruf der Vergessenen hörte. Es war eine dieser Nächte, in denen die Donau nicht wie ein Fluss klang, sondern wie ein Atem. Schwer. Langsam. Erwartungsvoll. Oli saß auf der Bordkante seines kleinen Schleppboots und starrte ins dunkle Wasser. Seit Jahren lauschte er den Rhythmen des Flusses, doch heute war alles anders.
Heute schwieg die Donau. Zu still.
Er spürte es tief in den Knochen: ein Ziehen, ein Vibrieren. Als wollte der Fluss sprechen, doch fand keine Worte. Oder etwas hielt ihn davon ab. Ein kalter Stich durchzuckte Olis Brust. So etwas war noch nie geschehen.
„Was ist los mit dir? “, murmelte er und strich mit der Hand über das Wasser. Keine Antwort. Keine Wellen. Keine Regung. Nur Schweigen. Und Schweigen, das wusste Oli, war das gefährlichste Zeichen der Donau.
Am nächsten Morgen brach das Schweigen. Panische Stimmen hallten über den Fluss. Zwei Fischerboote waren über Nacht verschwunden. Keine Spur. Keine Splitter im Wasser. Kein Hilferuf. Nicht einmal ein treibendes Netz. Einfach weg. Als hätte der Fluss sie verschluckt, lautlos und ohne Kampf.
Am Hafen drängten sich die Männer, flüsterten, stritten leise, warfen nervöse Blicke aufs Wasser. Einige schworen, sie hätten tief unten den Klang einer Glocke gehört. Andere erzählten von einem Schatten, größer als jedes Schiff, der den Fluss hinabgezogen sei. Doch als Oli erschien, verstummten alle.
Er spürte die Blicke. Die Erwartung. Die stummen Fragen. Seit Jahren hatten sie auf seine Warnungen gehört. Doch diesmal… wusste er selbst nicht, was geschah.
„Der Fluss…“, sagte er leise. „Er spricht nicht. “
Ein Murmeln ging durch die Menge. Ein alter Hafenarbeiter bekreuzigte sich.
„Gott steh uns bei“, flüsterte er. „Wenn die Donau schweigt, kehren die Vergessenen zurück. “
Oli hielt es nicht aus. Er nahm sein Boot und fuhr flussabwärts, dorthin, wo das Ziehen am stärksten war. Der Himmel lag bleigrau über der Landschaft. Nebel kroch wie schwere Watte über das Wasser. Er steuerte auf den Alberner Hafen zu. Auf den Friedhof der Namenlosen. Schon bevor er anlegte, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Die Luft fühlte sich zäh an, schwer. Sie war geladen mit einer Energie, die er vom Fluss kannte, doch diesmal war sie… anders. Dunkler.
Er stieg aus. Dann hörte er es. Ein Pochen. Tief. Dumpf. Rhythmisch. Es klang wie ein Herzschlag. Aber nicht seiner. Nicht der eines Menschen. Es war der Herzschlag des Flusses, verstummt und jetzt… gebrochen.
Oli ging zwischen den Kreuzen hindurch. Die Luft war frostig, obwohl es Frühling war. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er sah, dass mehrere Gräber aufgerissen waren. Die Erde war nicht einfach umgepflügt, sondern weggedrückt, als hätte sich etwas von unten nach oben gedrängt. Die Kreuze waren gespalten, der Boden feucht, obwohl es seit Tagen nicht geregnet hatte. Dann entdeckte er es:
Ein Fußabdruck im Matsch. Zu groß. Zu tief. Nicht menschlich. Oli kniete sich hin. Die Erde vibrierte. Kälte. Alter. Dunkelheit. Hinter ihm erklang eine Stimme:
„Du bist wiedergekommen. “
Er fuhr herum. Zwischen den Weiden stand eine Gestalt. Seine Kehle wurde trocken.
„Mara. “
Sie hatte sich verändert. Nicht mehr so durchsichtig wie früher. Nicht mehr fließend, nicht mehr fluid. Sie wirkte solider. Greifbarer. Körperlicher. Und ihre Augen… dunkel wie Treibgut nach einem Sturm.
„Warum bist du hier? “ fragte Oli.
Doch bevor Mara antwortete, sah er ihre Hände. Starr. Hart. Wie aus altem Holz.
„Du bist… nicht mehr dieselbe“, flüsterte er.
„Nein“, sagte sie. „Denn etwas hat mich zurückgerufen. “
„Was? “
Sie blickte zum Wasser.
„Die Vergessenen. “
Ein Zittern durchfuhr Oli.
„Wer sind die Vergessenen? “
„Die, die nie hätten gehen sollen. Die, die die Donau nicht behalten wollte… und die Welt nicht zurücknahm. “
Sie zeigte auf die offenen Gräber.
„Sie erwachen. “
Ein Geräusch ließ sie herumfahren: schwere, schleppende Schritte, als würde jemand mit nassen Füßen über Kies gehen. Zwischen den Kreuzen bewegte sich ein Schatten. Groß. Schwankend. Langsam. Oli wich einen Schritt zurück.
„Was ist das? “
Mara schwieg. Ihr Körper zitterte, als hielte sie sich mühsam zusammen, um nicht zu zerbrechen.
„Manche Seelen“, sagte sie schließlich, „fanden keinen Frieden. Die Donau nahm sie, doch sie wollte sie nicht behalten. Und der Ort, der sie hätte aufnehmen sollen… tat es nicht. “
Der Schatten kam näher. Er wirkte menschlich, aber verzerrt. Gebeugt. Der Kopf hing schief, als wäre der Nacken gebrochen. Die Hände schleiften über den Boden, lang wie Äste.
Oli roch ihn, bevor er ihn klarsah: modrig, nach Wasser, das zu lange steht. Nach Erde, die nicht loslassen will.
„Das ist… ein Toter“, flüsterte Oli.
„Nein“, sagte Mara. „Das ist ein Vergessener. “
Der Schatten blieb vor ihnen stehen. Oli spürte einen Druck auf der Brust, als läge ein Gewicht auf seinem Herzen. Die Gestalt hob den Kopf. Nichts Menschliches war in ihrem Gesicht. Die Augen: leer, ausgeräumte Höhlen. Der Mund: offen, doch ohne Atem. Dann bewegte sich der Mund. Ein Laut entstand. Kratzend. Feucht. Unvollständig.
„Na…“
Mara legte ihre Hand auf Olis Arm.
„Sie wollen nur eins. “
„Was? “
„Dass man ihre Namen spricht. “
„Aber… sie haben keine Namen. “
Mara sah ihn an, ihre Augen voller Traurigkeit.
„Genau das ist das Problem. “
Der Schatten streckte eine Hand aus. Nicht nach Mara. Nicht nach Oli. Sondern zum Wasser. Und das Wasser reagierte. Die Oberfläche kräuselte sich, obwohl kein Wind wehte. Wellen zogen Kreise, erst einen, dann noch einen, dann viele. Oli schwankte, als eine Vision ihn erfasste:
Hände trieben im Wasser. Schreie hallten, vom Nebel verschluckt. Gesichter tauchten auf, verzerrt von Panik, von Kälte, von Vergessen. Ein Schiff sank, alt, aus Holz, mit Segeln. Männer, Frauen, Kinder – namenlos, weil niemand sie je suchte. Das Wasser verschlang sie. Doch es weinte.
Mit einem Schrei riss die Vision ab. Oli brach auf die Knie. Mara legte ihre Hand auf seine Schulter.
„Die Donau hat dir gezeigt, was ich seit Jahrhunderten sehe. “
„Warum… jetzt? Warum kehren sie zurück? “
„Weil du der Wächter bist. Und du warst zu lange still. “
Der Schatten blickte Oli an. Seine leeren Augenhöhlen schienen plötzlich Fragen zu stellen.
Mara flüsterte:
„Sag einen Namen. “
„Aber ich weiß keinen! “
„Nenn einen, der vergessen wurde. “
Oli zitterte. Er suchte ein Wort, alt genug, schwer genug. Verloren. Dann stieg eines in ihm auf, nicht aus seinem Gedächtnis, sondern aus der Tiefe der Donau.
Er flüsterte:
„Johannes. “
Der Schatten hielt inne. Die Luft bebte. Langsam begann die Gestalt zu zerfallen, nicht qualvoll, sondern wie Sand, der in die Erde rieselt. Ein leiser Wind strich über den Friedhof. Der Schatten war fort.
„Warum dieser Name? “, fragte Oli heiser.
„Weil er zu den Ersten gehörte“, sagte Mara. „Einer, den die Donau nie vergessen wollte. “
„Und jetzt? “, fragte er. „Sind sie alle… erlöst? “
Mara sah ihn lange an. Zu lange.
„Nein. “
Sie deutete auf die offene Erde. Auf die zahllosen Abdrücke.
„Es war nur einer von vielen. Und nicht alle werden warten, bis du ihre Namen sprichst. “
Ein kalter Schauer durchfuhr Oli.
„Dann… was wollen sie? “
Mara wandte den Blick zum Fluss.
„Manche wollen nur Ruhe. “
Sie sah ihn an.
„Doch manche wollen… zurück. “
Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Ein Knacken. Ein Scharren. Wieder. Und wieder. Von überall. Oli wirbelte herum, die Schatten traten hervor. Nicht einer, nicht drei, nicht zehn – mehr. Dutzende.
Menschliche Gestalten. Verzerrt. Rastlos. Zögernd. Wie etwas Vergessenes, das sich mühsam an das Leben erinnert. Oli öffnete den Mund, doch kein Ton kam heraus. Mara trat dicht an seine Seite.
„Die Donau verlangt, dass du ihnen gibst, was die Welt ihnen verweigerte. “
Oli flüsterte:
„Namen. “
„Ja. “
„Aber… ich kenne sie nicht! “
„Doch. “
Mara legte seine Hand auf Olis Brust.
„Hier drin. Die Donau hat sie dir gegeben. “
Oli spürte, wie etwas Warmes in ihm aufglühte. Ein Licht, ähnlich dem, das Mara ihm einst geschenkt hatte. Doch stärker. Unaufhaltsam. Er atmete tief ein und öffnete die Augen.
Die Schatten warteten. Oli hob die Hände. Seine Stimme, anfangs leise, wurde klar, laut, sicher. Er rief Namen, die er nie gehört hatte. Namen, die niemand mehr wusste. Namen, älter als manche Kreuze. Namen, die nie gesprochen, nie erinnert worden waren. Und jedes Mal, wenn er einen Namen aussprach, verschwand ein Schatten. Nicht in Rauch, nicht in Dunkelheit – in Licht. Ein Licht, das wie Funken erlöster Erinnerungen zum Himmel stieg.
Nach und nach wurden es weniger, bis nur noch einer blieb. Groß. Breit. Mit einer Präsenz, die die Luft zusammenzog. Dieser Schatten sprach – nicht mit Worten, sondern mit einem einzigen Gefühl: Zorn.
„Warum bist du anders als die anderen? “, flüsterte Oli.
Mara atmete tief ein.
„Weil er keinen Namen hat. Nicht einmal die Donau kennt ihn. “
Der Schatten rückte näher. Seine Form flimmerte, als würde er zugleich wachsen und schrumpfen.
„Was will er? “, fragte Oli.
„Einen Namen“, sagte Mara leise. „Aber keiner gehört ihm. Keiner passt. “
Der Schatten hob den Arm. Der Wind heulte. Äste bogen sich. Die Donau brodelte.
„Wenn er keinen Namen bekommt“, flüsterte Mara, „nimmt er deinen. “
Oli fröstelte. „Was heißt das? “
Mara sah ihn an, Schmerz in den Augen. „Er wird dich verdrängen. Du wirst vergessen sein. Und er wird in deinem Körper weiterleben. “
Der Schatten streckte die Hand nach Olis Brust aus. Oli spürte, dass es kein Zurück mehr gab.
„Wie kann ich ihn aufhalten? “, keuchte er.
Mara zitterte, ihre Stimme bebte. „Gib ihm etwas anderes als einen Namen. “
„Was denn? “
„Erinnerung. “
Oli begriff nicht. Doch er hatte keine Wahl. Er presste die Hände auf sein Herz. Ein Licht brach hervor – das Geschenk, das Mara ihm einst gegeben hatte. Sein eigenes Licht, seine Erinnerungen. Sein Leben. Er trat auf den Schatten zu.
„Du willst Erinnerung? “, rief er. „Dann nimm meine! “
Der Schatten schnellte vor, alles leuchtete weiß, dann fiel Dunkelheit. Stille.
Oli öffnete die Augen. Er lag am Ufer. Der Morgen dämmerte, Vögel sangen. Neben ihm kniete Mara.
„Du lebst“, flüsterte sie.
„Der Schatten? “
„Fort. Nicht erlöst, aber weit weg. “
„Und ich? “
Mara sah ihn lange an.
„Du hast einen Teil deiner Erinnerungen verloren. Aber nicht dich selbst. Du bleibst, wer du bist. “
„Welche Erinnerungen… fehlen mir? “
Mara schlug die Augen nieder.
„Die wichtigsten sind noch da. Der Rest wird sich zeigen. “
Oli richtete sich langsam auf.
„Und jetzt? “, fragte er.
Mara sah ihn an, ihr Blick schwankte zwischen Trauer und Stolz.
„Jetzt, Oli …
bist du mehr als nur der Wächter. “
Sie führte seine Hand zum Wasser.
„Du bist das Gedächtnis der Donau. “
Schlusswort
Tot ist nur, wer vergessen wird, oder keinen Namen hat.
Kurzgeschichte aus Simmering
Andreas Kmeth
(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht)