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Das Findelkind

Der Frost hielt die Stadt eisern im Griff, es war tiefster Winter in Wien. Am 23. Dezember, einen Tag vor Heiligabend, kam ein Mädchen zur Welt – zu Hause, im Elternhaus, ohne Hebamme, ohne Hilfe. Eine stille Hausgeburt. Nach der Geburt wickelte der Vater das Kind in eine Decke und trug es fort. Er brachte es zur Alt-Simmeringer Pfarrkirche St.Laurenz und legte es dort in ein Wärmebettchen.

Schwester Loren vom Kloster der Schwestern von der schmerzhaften Mutter entdeckte das Kind, in eine dicke Decke gewickelt, unter der Sitzbank in der zweiten Reihe. Ein kleiner Zettel lag dabei. Darauf stand: „Bitte kümmert euch um das Mädchen. Wir, ihre Eltern, können es nicht. Wir sind arm, haben kaum genug zu essen und schaffen es nicht, sie zu ernähren. Dieses elende Leben, das wir führen, wollen wir ihr ersparen. Nehmt sie auf, schenkt ihr einen schönen Namen– sie hat es verdient. Sie war so tapfer, eine äußerst leichte Geburt. “

Loren beschloss, das Mädchen Rosalie zu nennen. Der Name schien ihr passend, denn neben dem Wärmebettchen lag ein rotes Rosenblatt. Rosalie eroberte Lorens Herz im Sturm, obwohl sie nur weinte. Vielleicht, weil Loren selbst ein Findelkind war. Sie umsorgte Rosalie, als wäre es ihr eigenes Kind. Von Rosalies Eltern fehlte jede Spur, niemand wusste, wer sie waren. Loren suchte jahrelang nach ihnen – vergeblich.
Das Einzige, was Rosalie von ihren Eltern blieb, war eine selbstgemachte Halskette, die sie trug, als Loren sie fand. Sie bestand aus einer Strohkette und einem Anhänger aus geschnitztem Birkenholz, der ihrem Sternzeichen, dem Steinbock, ähnelte.

Die Jahre vergingen, und Loren zog Rosalie zu einer klugen und tüchtigen jungen Frau heran. Sie studiert Kunst und Geschichte an der Universität Wien und steht kurz vor ihrem Abschluss. Ihre Abschlussarbeit plant sie über das Schloss Neugebäude zu schreiben. Vor Kurzem verließ sie das Kloster und zog in eine Wohnung nahe dem Schloss, um Loren zu zeigen, wie selbstständig sie geworden ist. Nebenbei arbeitet sie in einer Buchhandlung, um sich Wohnung und Lebensunterhalt zu finanzieren.

Da sie nun nur einen Katzensprung vom Naturlehrpfad entfernt wohnt, verbringt sie dort viel Zeit, oft direkt vor dem unteren Teil des Schlosses. Die Natur in diesem Gebiet, kombiniert mit dem prächtigen Bauwerk, inspiriert sie zu Höchstleistungen.

Loren erkannte, dass Rosalies Weg, der einzig richtige für sie war. Rosalie hatte nie vor, den Pfad zu wählen, den Loren jahrzehntelang mit Hingabe beschritten hatte. Solange sie im Kloster lebte, fügte sie sich den Regeln der Schwestern. Doch der Gedanke, dort zu bleiben, kam ihr nie. Dennoch empfindet sie tiefe Dankbarkeit für die Güte der Schwestern. Sie bleiben ein Teil ihres Lebens und wohnen für immer in ihrem Herzen.
Loren beobachtete oft, wie Rosalie ihr Leben selbst in die Hand nahm und es mit Bravour meisterte. Ihr ehrgeiziges Sternzeichen sprühte vor Tatendrang.

Menschen mit Steinbock-Charakter gelten als verlässlich. Kaum jemand arbeitet so fleißig, handelt so pflichtbewusst, organisiert sich so gut und bleibt dabei so belastbar wie ein Steinbock. Wo andere längst aufgegeben hätten, kämpft dieses willensstarke Sternzeichen weiter. Rosalie verkörpert all das jeden Tag – und genau das erfüllte Loren mit tiefem Stolz.
Der Winter hielt Einzug in die Stadt, und Rosalie zog es wieder häufiger in die Nähe des Schlosses. Besonders angetan hatte es ihr eine Bank neben dem Tor am unteren Schlossrand. Der Naturlehrpfad führte direkt daran vorbei. Bei ihren fast täglichen Spaziergängen kam sie jedes Mal dort vorbei und ließ sich meist für einen Moment nieder. Sie genoss die Stille, die hier herrschte – kaum ein Laut störte diesen Augenblick. Der Winteranfang zeigte sich von seiner schönsten Seite: Es schneite leicht.

„Wow, es schneit! “ flüsterte sie. Wie zauberhaft der Naturlehrpfad aussieht, wenn der Schnee ihn bedeckt. Und diese frische Luft – einfach atemberaubend.

Sie blickte nach oben und blinzelte. Winzige weiße Flocken schaukelten herab, wurden größer und landeten auf ihrem geröteten Gesicht. Die ersten schmolzen und kühlten ihre Haut angenehm. Gebannt verfolgte sie das Tanzen der Flocken und streckte die Hand aus. Doch kaum berührte sie eine, löste sie sich auf. Auf ihrem Mantel legte sich ein dünner, flauschiger Film aus zartem Weiß ab. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Flocken aus unzähligen, verschieden geformten Kristallen bestanden. Sie entdeckte Sterne in vielen Variationen, doch bevor sie sie genauer betrachten konnte, verschwanden sie. Zurück blieben winzige Wassertropfen auf ihrer Haut.
Plötzlich stand ein alter Mann vor Rosalie, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht. Schlank, in einen grauen Mantel gehüllt, mit schwarzem Hut und dunkler Brille. Ein wilder Vollbart verbarg einen Großteil seines Gesichts. Der Stock in seiner rechten Hand und die Brille ließen vermuten, dass er blind war. Mit tiefer Stimme fragte er höflich:

„Verzeihung, darf ich mich zu Ihnen setzen? “

„Natürlich, aber die Bank ist etwas nass vom Schnee, der gerade fällt. “

„Das stört mich nicht. Gestatten, mein Name ist Egon. “

„Freut mich, Rosalie ist meiner. “

„Rosalie – was für ein schöner Name. Er passt sicher zu Ihrer Ausstrahlung.

“ Obwohl ich Sie nicht kenne, spüre ich Ihren Liebreiz. Charismatische Menschen kennen ihre Stärken und Schwächen, sie wissen, wofür sie stehen. Sie haben Visionen, Mut und handeln entschlossen. Mit Hingabe verfolgen sie ihre Ziele und lieben, was sie tun. Sie sehen das Leben positiv und betrachten Veränderungen als Chance. All das fühle ich in diesem Moment an Ihrer Seite. Was sagen Sie dazu, Rosalie?

„Ich bin ein wenig sprachlos. So hat mich noch niemand in so kurzer Zeit durchschaut. “

Sie lächelt.

„Ich glaube, Sie sind ein Charmeur der alten Schule. So wie Sie Komplimente machen – das beherrschen nur wenige Männer. Wer sind Sie wirklich? Mit wem habe ich es zu tun? Bitte antworten Sie ehrlich. “

„Rosalie, ich bin nicht blind. Aber ich sehe, dass Sie mir glauben könnten. “

Er zögerte ein wenig.

„Auch wenn mein Äußeres anderes vermuten lässt – aus meinen Augen strahlt nur Dunkelheit und Leere. Deswegen nehme ich die dunkle Brille nicht ab, um Sie nicht zu erschrecken. Mein Anblick wäre furchterregend, und das will ich Ihnen ersparen. “
„Was reden Sie da für einen Unsinn? “

„Beruhigen Sie sich, Rosalie. Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen: Ich weiß, wer Ihr Vater ist – weil ich sein Vater bin. “

„Hören Sie auf, solche Lügen zu erzählen! Dieses absurde Gespräch ist unerträglich. Ich bin ein Findelkind. Meine Eltern haben mich weggegeben, und niemand hat sie je gefunden. Sie wollen mir weismachen, Sie wüssten, wer mein Vater ist? Lächerlich! Lassen Sie mich in Ruhe. Ich gehe jetzt nach Hause. “

„Rosalie, ich bin Ihr Großvater. Vermutlich bin ich 1945 gestorben – zumindest glaube ich das. Aber die Wahrheit blieb ein Geheimnis. Seit damals gelte ich wohl als vermisst. Damit Sie mir glauben, erzähle ich Ihnen von der Kette, die Sie tragen. Sie ist aus feinem Stroh geflochten, mit einem Anhänger aus Birkenholz, der Ihr Sternzeichen zeigt: den Steinbock. Ich habe sie selbst geschnitzt und Ihrem Vater für Sie gegeben. “

„Das ist verrückt, alter Mann. Genau so ein Schmuckstück besitze ich – seit meiner Geburt. “ Bist du tatsächlich mein Großvater?

„Ja Rosalie, hör mir bitte noch einen Moment zu. Ich habe nicht viel Zeit, um dir mein Schicksal zu schildern. “ Ich darf dir nur jetzt und nur ein einziges Mal erscheinen – allein, um Gerechtigkeit herzustellen.
Früher sah ich ganz anders aus, als du mich jetzt siehst. Ich war kleiner als der durchschnittliche Mann meiner Zeit, und ja, ich aß oft mehr, als mir guttat. Mein Gewicht passte nicht zu meiner Größe. Auch die Stimme, mit der ich jetzt zu dir spreche, ist nicht meine eigene.
Mein Name ist Egon K. Ich war Kunstmaler in Wien, ein sogenannter Heimatmaler. Meine Motive waren vor allem Wiener Gebäude – Simmering, Plätze, Denkmäler. Man nennt es Vedutenmalerei.
Im Zweiten Weltkrieg wählte man mich aus, einen geheimen Schatz zu bewachen, der im Schloss Neugebäude verborgen liegt. Unter dem Vorhof des Schlosses gibt es einen kleinen Bunker, dessen Existenz wohl niemand mehr kennt. Er ist nur durch einen versteckten Eingang zugänglich, der sich im Inneren des Brunnens im Hof verbirgt.
In diesem geheimen Bunker liegen zahlreiche Gemälde berühmter österreichischer Künstler. Man brachte sie während des Zweiten Weltkriegs aus Sicherheitsgründen hierher. Die meisten stammen von Wiener Malern und gelten vermutlich als verschollen. Doch sie sind noch immer unversehrt – auch meine Werke. Die Museen trauern sicher um diesen Verlust, ahnungslos, dass die Bilder noch existieren. Vermutlich weiß außer mir niemand mehr von ihrem Versteck, denn das Projekt war streng geheim.

Der Auftrag war, diese Werke um jeden Preis zu schützen. Heute vermutet man, sie seien in alle Welt verschleppt worden. Seit Mai 1943 bewachte ich den unterirdischen Bunker. Doch nach einigen Monaten vergaß man mich aus unerklärlichen Gründen. Bis dahin brachte mir jede Woche jemand Lebensmittel und Wasser. Eines Tages, vermutlich Anfang 1945, kam niemand mehr. So starb ich einsam in einem Versteck, das wohl längst niemand mehr kannte. Man hatte mir keinen Schlüssel gegeben, damit ich niemandem öffnete, der keinen Zutritt hatte – und der Schatz sicher blieb.
Der Anhänger aus Birkenholz, den ich dir schnitzte, ist in Wahrheit ein nachgemachter Schlüssel, der die Tür zum geheimen Bunker öffnet. Mein Plan, dass mein Sohn mich im Notfall retten könnte, scheiterte damals. Ich hatte eine geheime Nachricht in den Anhänger gelegt – einen kleinen Zettel mit Angaben, die mein Leben hätten retten sollen. Doch offenbar hat mein Sohn sie nie gelesen oder für wichtig gehalten. Ich nehme es ihm nicht übel. Ich war nie der Vater, den er brauchte. Zu oft drehte sich alles nur um mich, nie um ihn. Das Malen stand immer an erster Stelle. Seine Probleme interessierten mich kaum. Ich bemerkte nicht einmal, dass er in Armut lebte, obwohl ich durch meine Kunst gut verdiente. Warum alles so kam, spielt heute keine Rolle mehr. Ich mache niemandem einen Vorwurf – es war allein meine Entscheidung, diesen Kunstschatz zu bewachen. Viele Jahre sind vergangen, und es ist an der Zeit, dass dieses geheime Versteck endlich entdeckt wird. Der Kunstschatz soll zu seinen rechtmäßigen Besitzern zurückkehren – oder ins Museum.

Rosalie, wann dieser geheime Bunker gebaut wurde, weiß ich nicht. Ich vermute jedoch, dass alle, die daran beteiligt waren, längst verstorben sind. Bis heute sucht niemand nach diesen Bildern. Dein Vater, Emil K., arbeitet in einer Gärtnerei in Simmering. Frag in den Gärtnereien von Kaiserebersdorf nach ihm, dort wirst du ihn finden. Zeig ihm deine Kette – er wird sofort wissen, wer du bist. Berichte ihm von unserer Begegnung und dem geheimen Projekt. Löst das Rätsel gemeinsam, nur so werdet ihr Erfolg haben. Erzählt niemandem davon, denn dieser Kunstschatz ist von unschätzbarem Wert. Seid vorsichtig – er kann gute Menschen ins Böse treiben. Lasst nicht zu, dass die Gier nach Reichtum euer Leben zerstört.

Ihr müsst im Innern des Brunnens an der Seitenwand nach dem geheimen Eingang zum Bunker suchen. Er öffnet sich nur, wenn man ………….. In diesem Moment unterbrach ich den alten Mann, denn ein lautes Geschrei riss mich aus seinen Worten. Es klang schrill und unangenehm. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in den Himmel. Mehrere Krähen flogen über uns hinweg, sie stürzten sich wild aufeinander und kämpften. Der Spuk dauerte nur Sekunden. Als ich den Blick wieder auf den alten Mann richtete, war er verschwunden – spurlos, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Ich suchte in alle Richtungen, doch er blieb fort. Hatte ich mir das alles nur eingebildet?

Gab es diese Begegnung mit dem alten Mann wirklich, der behauptet, mein Großvater zu sein? Soll ich dieser unglaublichen Geschichte trauen? Wer würde mir glauben, wenn ich davon erzähle? Was soll ich jetzt tun? Ich bin so aufgewühlt, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Loren möchte ich damit nicht belasten – sie hat schon genug für mich getan. Soll ich meinen Vater suchen und mit ihm dieses verrückte Rätsel lösen? Aber ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt existiert. Und selbst wenn, wie könnte ich ihn gleich beim ersten Treffen mit so einer Geschichte konfrontieren? Er würde mich wohl für verrückt halten. Ich verstehe selbst kaum, was passiert ist. Der Zweifel an der Wahrheit dieser Begegnung lässt mich nicht los.
Es gibt nur eine Person, der ich diese Geschichte anvertraue: Helly.
Sie ist meine engste Freundin. Wir studieren beide an der Universität Wien. Sie ist klug, ein wenig älter als ich, und mit ihr kann ich über alles sprechen. Wir haben schon viel zusammen erlebt. Helly wohnt im selben Bezirk, nicht weit von mir entfernt, in der Simmeringer Hauptstraße 147. Dort werde ich sie besuchen und ihr alles erzählen. Wenn jemand mir in dieser Situation einen Rat geben kann, dann sie. Ich vertraue ihr. Sie recherchiert hervorragend – vielleicht lösen wir das Geheimnis gemeinsam.
Als ich Helly zu Hause traf, war sie aufgewühlt. Seit Tagen fiel ihr nichts Passendes für ihre Abschlussarbeit ein, die bald fällig war. Ihre Wut stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Hallo Rosalie, was führt dich zu mir? Verzeih meinen scharfen Ton. Ich bin gerade kein guter Gesprächspartner“, sagte sie. „Ich weiß einfach nicht, wie ich meine Abschlussarbeit angehen soll. Das macht mich fertig. Ich habe die letzten Nächte kaum geschlafen. “

„Beruhige dich, Helly, und hör mir zu“, erwiderte ich. „Was ich dir gleich erzähle, könnte deine Laune schlagartig ändern. Es ist aufregend und verrückt zugleich. “

„Na dann, leg los, Rosalie“, forderte sie mich auf.
„Ich schilderte ihr Wort für Wort dieses aufregende Erlebnis. “ Wie erwartet hörte sie aufmerksam zu. Als ich endete, sah sie mich mit einem ungläubigen Blick an.

„Wow, was hast du dir da nur ausgedacht? Warum erzählst du mir so eine absurde Geschichte? Meine Nerven liegen blank, ich kann das gerade nicht ertragen. Was soll das, Rosalie? “

„Bitte, Helly, glaub mir. Ich würde dich nie belügen – schon gar nicht, wo es dir gerade so schlecht geht. “

„Willst du damit sagen, dass dieses Erlebnis wirklich passiert ist, Rosalie? “

„Ja, es war genau so, wie ich es dir erzählt habe. Ich weiß, es klingt verrückt, und selbst ich zweifle daran. Aber genau deshalb brauche ich dich, um die Wahrheit herauszufinden. “

Nach dem langen Gespräch gelang es mir, sie zu überzeugen, dass an diesem seltsamen Erlebnis vielleicht doch etwas Wahres sein könnte. Je länger wir diskutierten, desto mehr steigerte sich Helly in das bevorstehende Abenteuer hinein –eines, das vielleicht gar keines ist. Für mich bleibt es vorerst ein verborgenes Rätsel, doch meine innere Aufregung wächst spürbar. Helly schmiedete in Windeseile einen Plan, der noch in der selben Nacht das ungelüftete Geheimnis enthüllen sollte.
Da ich das Schloss gut kannte, wusste ich von einer schadhaften Öffnung in der Außenmauer nahe dem Haupttor. Durch diese schlichen wir uns hinein. Gegen Mitternacht standen wir in der kalten, tiefen Dunkelheit vor dem Brunnen. Er war mit schweren Holzplatten abgedeckt, und weder ein Seil noch ein Wassertrog war vorhanden, um hinabzusteigen. Wir versuchten, die Platten zu entfernen, doch Helly hatte in ihrem Plan kein passendes Werkzeug dafür vorgesehen. Ich muss gestehen, selbst mir war nie aufgefallen, dass der Brunnen abgedeckt war, obwohl ich das Schloss oft besucht hatte. Unsere Unerfahrenheit wurde uns schmerzlich bewusst. Nach kurzer Zeit gaben wir den Versuch auf, das Rätsel zu lösen, und kehrten nach Hause zurück.

Am nächsten Tag trafen wir uns erneut und besorgten die nötigen Utensilien für unser Vorhaben. Den Rest des Tages verbrachten wir damit, den Plan zu verbessern, um ihn reibungslos umzusetzen. Meine Kette mit dem Anhänger nahmen wir genau unter die Lupe, doch ein Versteck oder eine Öffnung fanden wir nicht. Entweder gab es keines, oder es war zugut verborgen. Das ließ meinen Glauben an einen Kunstschatz schwinden. Doch der Gedanke, den Familienschatz zu entdecken, beflügelte mich sofort wieder.

Mit Einbruch der Dämmerung machten wir uns auf den Weg zurück zum Schloss. Endlich dort angekommen, zitternd vor Kälte, standen wir vor dem geheimnisvollen Brunnen. Bei eisiger Luft, leichtem Schneefall und klammen Fingern lösten wir mühsam die Holzplatten. Als wir in die tiefe Finsternis des Brunnens blickten, zeichnete sich die Angst auf unseren Gesichtern ab. Doch nach wenigen Momenten überwanden wir sie und befestigten das mitgebrachte Seil. Der Holzbalken, an dem das Seil hing, trug zugleich die Überdachung des Brunnens. Je länger ich den Balken betrachtete, desto mehr schwand mein Vertrauen. Die morsche Oberfläche an einigen Stellen ließ mich an seiner Stabilität zweifeln.

Doch die beißende Kälte ließ uns nicht genug Zeit für eine gründliche Untersuchung, die nötig gewesen wäre, um unbesorgt weiterzumachen. Wir befestigten den Wassertrog am Seil und prüften die Tragfähigkeit des Balkens – er trug Hellys Gewicht mühelos. Helly stand bereits mit beiden Füßen im Trog und klammerte sich mit aller Kraft ans Seil. Vorsichtig löste ich die Sperre der leicht angerosteten Kurbel, die seitlich an einem der beiden besser erhaltenen Balken angebracht war. Mit größtem Respekt vor der Last, die auf der Kurbel lag, hielt ich sie mit beiden Händen so fest ich konnte.

Bevor ich Helly mit der Kurbel hinunterließ, schnallte sie sich einen Gürtel um, an dem vier Taschenlampen hingen. Ihr Licht durchbrach fast die Hälfte der Dunkelheit im Brunnen. Dann war es so weit: Langsam ließ ich sie in die Tiefe hinab. Meter für Meter hielten wir an, und Helly tastete die Wände sorgfältig nach einem geheimen Eingang ab. Nach etwa fünfzehn Minuten und sieben Metern Tiefe hatte sie nichts gefunden. Also zog ich sie langsam wieder nach oben. Dabei suchte sie erneut die Wände ab, doch der geheime Eingang blieb unauffindbar. Enttäuscht sahen wir uns an, beide mit der gleichen Frage: Was nun?
„Rosalie, das hat keinen Zweck mehr. Wahrscheinlich gab es hier nie einen Eingang, geschweige denn einen geheimen Bunker. “ Lass uns aufhören und nach Hause gehen, bevor wir noch erfrieren.

„Nein! “ schrie Rosalie und sprang auf Helly zu. Sie packte das Seil, und gemeinsam stürzten sie in die dunkle Tiefe des Brunnens. Ihr gemeinsames Gewicht ließ sie beim Aufprall kreisend rotieren. Sie prallten von rechts nach links gegen die Brunnenmauer. Plötzlich krachte es laut, und in der Mauer zeichnete sich der Umriss einer Öffnung ab.

„Sieh nur, Helly! Der Eingang! Es gibt ihn wirklich – wir haben ihn gefunden! “
Das Gewicht beim Aufschlag war wohl entscheidend, dass sie ihn fanden. Vor Freude umarmten sie sich und schoben die Mauerziegelöffnung so weit beiseite, dass sie hindurchkriechen konnten. Rosalie ließ Helly voran und folgte ihr. Beide blieben gebückt, denn der Tunnel zum Bunker war zu niedrig, um aufrecht zu gehen. Hellys Taschenlampe erhellte fast den gesamten, nur wenige Meter langen Gang. Am Bunkereingang suchten sie das Schloss, um das Tor zu öffnen. Als sie es entdeckten, staunten sie: Es saß ungewöhnlich tief unten für ein Türschloss. Rosalie zog ihre Kette mit dem Anhänger aus der Hosentasche und steckte ihn ins Schloss.

„Er passt! “, rief Rosalie laut vor Freude.

Helly fasste Rosalie am rechten Arm. Gemeinsam drehten sie das Schloss – einmal, ein zweites Mal. Nichts geschah. Sie warfen sich einen ratlosen Blick zu und versuchten es ein drittes Mal. Da knackte es, und die Tür sprang mit einem lauten Quietschen einen Spalt auf. Aufgeregt warfen sie einen Blick hinein. Was sie sahen, verschlug ihnen den Atem. Obwohl der Spalt schmal war und nur wenig Licht eindrang, reichte es, um die Umrisse der verborgenen Objekte zu erkennen. Sie hatten ihn tatsächlich gefunden. Vorsichtig trat Helly in die Mitte des Bunkers und leuchtete ihn so gut es ging aus. Wohin ihre Blicke auch fielen, überall sahen sie Ölgemälde in allen Größen. Bilder aus allen Bundesländern Österreichs lagen, standen oder hingen verstreut im Raum.

Es war kaum Platz zum Gehen, als Rosalie plötzlich wie erstarrt stehen blieb. Dann sank sie weinend auf die Knie. Vor ihr lag ein Skelett, kaum noch als Soldat in Uniform zu erkennen. In der linken Hand hielt es eine mit Kohlestift gezeichnete Skizze. Sie zeigte zwei Männer und eine Frau, die ein Baby im Arm hielt. Darunter standen die Namen: Egon, Emil, Maria. Doch beim Baby fehlte der Name. In diesem Moment begriff Rosalie, dass der alte Mann keine Einbildung gewesen war. Sie hob die Zeichnung auf, betrachtete sie und küsste jede der gezeichneten Figuren. Es waren ihr Großvater, ihr Vater und ihre Mutter – die sie zum ersten Mal sah.
Helly hob sie auf und schloss sie tröstend in die Arme.

„Es tut mir leid, dass du so von deiner Familie erfährst. Aber wie geht es jetzt weiter, Rosalie? Wir müssen den Fund unbedingt melden. “

„Du hast recht, Helly. Geh zur Polizei und erzähl ihnen, was wir entdeckt haben. Ich suche währenddessen meinen Vater. Hoffentlich arbeitet er noch in einer der Gärtnereien in Kaiserebersdorf. “

Sie steckte die Zeichnung ein und brach wie Helly auf. Nach etwa einem Kilometer Fußmarsch erreichte sie die erste Gärtnerei. Sie ging direkt zum Besitzer und fragte nach Emil K. Und tatsächlich – sie hatte Glück. Nach kurzem Warten trat ein Mann auf sie zu. Sie warf einen Blick auf die Zeichnung, Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie sagte: „Ich glaube, Sie sind mein Vater. “ Emil K. war fassungslos. Der Moment überwältigte ihn. Vor Aufregung atmete er schwer, schnappte nach Luft, seine Augen weiteten sich, und sein Gesicht strahlte pure Freude aus. Er ergriff ihre Hände und fragte: „Wie heißt du? “
„Rosalie nennt man mich, Vater. “

„Ein bezaubernder Name für eine so wunderschöne junge Frau. “

Sie fielen einander in die Arme und hielten sich, als könnten sie nie wieder loslassen. Immer wieder küsste er ihre Stirn und flüsterte: „Danke, lieber Gott. “
Später fragte er sie:

„Rosalie, erzähl mir alles über dich. Was hast du erlebt, und wie hast du mich gefunden? “

Mit großer Hingabe begann sie, ihre aufregende Lebensgeschichte zu schildern. Dabei ließ sie auch ihren geheimnisvollen Großvater nicht aus, der am Ende ihrer Erzählung eine besondere Rolle spielte. Danach bat sie ihren Vater, ihr von ihrer Mutter und der ganzen Familie zu erzählen.

Rosalie, deine Mutter starb ein Jahr nach deiner Geburt – an gebrochenem Herzen. Sie ertrug es nicht, dich weggeben zu müssen. Du warst unser erstes und einziges Kind. Doch die verfluchte Armut zwang uns zu dem größten Fehler unseres Lebens: dich fortzugeben. Deine Mutter zerbrach daran, und ich lebe noch immer in dieser Armut. Deshalb arbeite ich weiter, obwohl ich krank bin und schwer beeinträchtigt. Seit fünf Jahren leide ich an der sogenannten Schüttellähmung. Sie zerstört nach und nach die Nervenzellen in meinem Gehirn, raubt mir die Beweglichkeit und lässt meine Muskeln erstarren.
Kehren wir zu deinem Großvater zurück. Er interessierte sich mehr für seine Malerei und fremde Menschen als für seinen Sohn. Nach dem Tod meiner Mutter wurde es noch schlimmer. Als du geboren wurdest, trennten sich unsere Wege. Er gab mir eine Kette mit einem Anhänger für dich und sagte, sie könnte eines Tages wichtig werden. Danach verschwand er aus unserem Leben. Wir hörten nichts mehr von ihm – bis du heute mit dieser unglaublichen Geschichte auftauchst. Hast du die Kette noch?

„Ja, Vater, sieh sie dir an – sie ist noch immer unversehrt und wunderschön. “

„Rosalie, wie willst du jetzt vorgehen? “

„Ich möchte mit dir zur Polizei gehen und Helly bei der Aufklärung dieser großartigen Entdeckung helfen. Schließlich geht es um den Kunstschatz unserer Familie – die Bilder deines Vaters, der ein herausragender Wiener Maler war. “

„Dein Großvater hat dich gebeten, ihn und seine Bilder zu finden. Ich wünsche mir, dass du seinen Nachlass weiterhin für unsere Familie verwaltest. “

„Das habe ich bis heute getan, immer in Absprache mit meinem Vater. Mein Großvater wurde im Familiengrab beigesetzt, und seine Bilder kamen zurück in unseren Besitz. Alle gefundenen Werke gaben wir den rechtmäßigen Eigentümern zurück. Die Bilder ohne Anspruchsberechtigte überließen wir dem Museum. “

Helly ist bis heute meine beste Freundin. Sie wurde Kunsthistorikerin und führt Besucher mit großer Hingabe durch das Schloss Neugebäude. Dabei erzählt sie die Geschichte des faszinierenden Renaissance-Baus – und natürlich auch jene, die unser beider Leben nachhaltig veränderte.

Ich hingegen wandte mich der Malerei zu. Mein größtes Vorbild? Mein Großvater, ein Heimatmaler aus Simmering.

**Schlusswort**
Jede Begegnung, die unsere Seele berührt, hinterlässt eine Spur in uns – vielleicht für immer.

 

Kurzgeschichte aus Simmering

 

Andreas K.                                                               

(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht)                                                                                    

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