
Das Echo der Jugend
Meine Jugend leuchtet in meiner Erinnerung wie das polierte Messing der alten Parkbank, auf der wir stundenlang saßen. Es war eine Zeit voller Unschuld, Lachen und grenzenloser Zuversicht. Im Mittelpunkt all dieser Bilder steht ein Name, der noch immer ein warmes Echo in mir weckt: Paulina.
Unser Freundeskreis war mehr als eine Gruppe Jugendlicher; wir bildeten einen Bund, geformt durch Abenteuer, nächtliche Gespräche unter Sternen und das feste Versprechen, einander nie im Stich zu lassen. Ein kleiner Kosmos, in dem die Welt der Erwachsenen keinen Zutritt hatte. Wir waren eine bunte Truppe: Jungs, die mit ihren Mofas prahlten, und Mädchen, deren Lachen die Sommerabende verzauberte. Und mittendrin war sie – Paulina.
Sie faszinierte mich vom ersten Moment an – nicht mit lauter, aufdringlicher Art wie andere, sondern mit stiller, fast geheimnisvoller Präsenz. Ihre Augen hatten eine Tiefe, in der sich Himmel und Erde spiegelten: das Blau des Himmels, die Wärme der Erde. Paulina war die Liebe meiner Jugend, eine zarte, innige Zuneigung, die weit über flüchtiges Geflirte hinausging. Es war jene Liebe, die man nur einmal erlebt – rein und unverfälscht, bevor die Komplexität des Erwachsenseins alles verändert.
In unserer kleinen Welt waren wir unzertrennlich. Wir teilten Geheimnisse, die wir niemandem sonst anvertrauten, spazierten stundenlang am Donauufer, sprachen über Träume und ferne Zukünfte. Ein Lied von Hansi Dujmic wurde unser gemeinsamer Favorit. Jeder Blick, jede Berührung trug eine stille Bedeutung, die nur wir verstanden. Unsere Liebe brauchte keine großen Worte; sie lebte in den leisen Momenten des Alltags.
Doch das Leben nahm seinen Lauf, und die unvermeidlichen Wendungen folgten. Mit dem Ende der Lehrzeit kamen Veränderungen, die wir nicht aufhalten konnten. Unsere Wege trennten sich – Umzüge, neue Pflichten. Das Leben geschah. Der Kontakt, einst intensiv und selbstverständlich, schwand allmählich. Aus täglichen Gesprächen wurden wöchentliche Briefe, dann sporadische Anrufe, bis schließlich nur noch Stille blieb, erfüllt von den Schatten der Vergangenheit.
Wir verloren uns aus den Augen – eine Liebe, die im Nebel der Zeit verschwand. Manchmal, wenn ich heute durch die alten Straßen unserer Heimatstadt gehe, suche ich unwillkürlich ihr Gesicht in der Menge. Ein sinnloses Unterfangen, das ich doch nicht lassen kann.
Auch die Freunde von damals, der großartige Kreis, der uns zusammenhielt, sind heute nur noch Erinnerungen – kostbare Splitter eines vergangenen Lebens. Doch die Essenz jener Zeit bleibt. Die Wärme der Freundschaft, die Tiefe der ersten Liebe – sie haben mich geformt, zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Und obwohl die Gegenwart eine andere ist, bleibt das Bild der jungen Paulina mit ihrem wissenden Lächeln in meinem Herzen. Ein wunderschöner Beweis dafür, dass es sie gab – diese makellose, perfekte Zeit, die wir Jugend nannten.
Die Erinnerung an meine Jugend bis 1987 bleibt ein Schatz, den mir niemand nehmen kann – ein ewiger Frühling in der Landschaft meines Lebens. In dieser Erinnerung sind wir alle noch vereint, unsterblich, lachend. Paulina und ich halten uns an den Händen, in einer Welt, die nie altert.
Viele Jahre sind vergangen. Die Lichter der Landstraßer Hauptstraße spiegelten sich im nassen Asphalt, als ich das Krankenhaus betrat. Ein Routinebesuch, nichts Besonderes. Die Gänge lagen still, erfüllt vom sterilen, vertrauten Geruch. Ich meldete mich am Empfang und wartete auf den Aufzug.
Im vierten Stock öffneten sich die Türen. Ich trat hinaus und suchte die Zimmernummer. Plötzlich huschte am Ende des Flurs eine vertraute Gestalt in hellblauer Pflegeruniform vorbei. Mein Herz stockte kurz. Diese Statur, dieser Gang –unverkennbar.
„Mario? “, murmelte ich, erstarrt im Gang.
Die Gestalt hielt inne, drehte sich langsam um. Das Gesicht war gezeichnet von den Jahren, doch die Augen blieben unverändert: funkelnd, voller Schalk.
„Wer zum Teufel…? Ben? Bist du das wirklich? “, fragte er, die Stimme heiser vor Überraschung.
Ich nickte, brachte nur ein breites Grinsen zustande. Wir liefen aufeinander zu und fielen uns wortlos in die Arme. Diese Umarmung überbrückte mehr als zwei Jahrzehnte der Trennung. Sie verdrängte den Geruch von Krankenhausfluren und rief stattdessen den Duft von Alt-Wiener Gassen und Sommerregen zurück.
Kurz darauf saßen wir in der kleinen Kaffeeküche. Mario schenkte mir rasch einen Becher Kaffee ein. Die Zeit schien stillzustehen, während wir uns gegenübersaßen, die Becher in den Händen, und redeten.
„Stell dir vor, im Landstraßer Krankenhaus“, sagte Mario lachend. Er arbeitete jetzt hier als Pfleger – eine Rolle, die perfekt zu seiner warmherzigen Art passte. „Wer hätte das gedacht, als wir damals im Arenbergpark Fußball spielten, bis die Sterne am Himmel standen? “
Wir wühlten in den Erinnerungen unserer Jugend. Die Streiche, die wir den Nachbarn spielten, die endlosen Sommerferien, die wir auf Radtouren durch den dritten Bezirk verbrachten, unsere erste Zigarette hinter dem Müllcontainer der Schule. Jede Erinnerung, die ich ausgrub, ergänzte er mit einem Detail, das ich längst vergessen hatte –der Name des bissigen Hundes, die Marke unseres Lieblingsbonbons.
Wir sprachen über unsere Eltern und Geschwister, wo sie geblieben waren, welche Wege sie gegangen waren. Die Welt da draußen, mit ihren Anforderungen und Sorgen, rückte in die Ferne. Hier, in dieser kleinen Kaffeeküche, waren wir wieder die Jungs von der Landstraße – unbeschwert und voller Leben.
„Weißt du noch, wie wir aus alten Brettern ein Floß bauen wollten, um auf dem Donaukanal zu fahren? “, fragte ich. Wir lachten laut los. „Es ist gesunken, bevor wir auch nur einen Meter weit kamen. “
Mario wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Ja, und deine Mutter hat uns danach eine Standpauke gehalten, die wir nie vergessen haben. “
Die Freude über dieses unerwartete Wiedersehen war so rein und tief, dass sie den Grund meines Krankenhausbesuchs fast vergessen ließ. Es fühlte sich an wie ein Geschenk des Zufalls, eine Erinnerung daran, dass die stärksten Bande oft in der Kindheit entstehen.
Viel zu schnell endete Marios Pause. Er musste zurück zu seinen Patienten.
„Wir dürfen uns nicht wieder aus den Augen verlieren, Ben“, sagte er ernst, als wir uns verabschiedeten.
„Nein, das werden wir nicht“, versprach ich.
Als ich das Krankenhaus verließ und in die kühle Wiener Abendluft trat, fühlte ich mich leichter als seit Jahren. Die Stadt hatte sich verändert, wir hatten uns verändert, doch unsere Freundschaft war geblieben – bereit, weiterzuleben, dank eines glücklichen Zufalls auf einem Krankenhausflur in Wien.
Fünf Monate waren vergangen, seit ich Mario zuletzt gesehen hatte. Ich machte mich auf den Weg zur Klinik Landstraße in Wien, um ihn wiederzutreffen. Unter dem trüben Himmel wirkte das Gebäude noch kühler und abweisender als sonst. Mario wartete bereits in der Eingangshalle. Sein Gesicht war ernst, seine Augen müde. Wir begrüßten uns herzlich, doch eine Schwere lag in der Luft, die nichts mit dem Wetter zu tun hatte.
"Ich muss dir etwas Trauriges sagen", begann er leise, als wir in den Aufzug stiegen. "Hans liegt hier im dritten Stock."
Ich erstarrte. Hans? Unser Hans? Der Hans mit dem ansteckenden Lachen, der uns in der Jugend mit seinen Streichen immer wieder in Schwierigkeiten gebracht hatte? Die Vorstellung war unwirklich. Mario nickte nur stumm, als er meinen geschockten Blick sah, und sagte mit zitternder Stimme: "Er hat Krebs. Es sieht nicht gut aus."
Ein Stich durchfuhr mich. Die unbeschwerten Erinnerungen an unsere Jugend, an Sommertage im Park und endlose Gespräche, wichen der bitteren Realität. Wir beschlossen, ihn sofort gemeinsam zu besuchen.
Die Gänge im dritten Stock lagen still und rochen nach Desinfektionsmitteln. In seinem Zimmer fanden wir Hans, blass und abgemagert, in einem Krankenhausbett. Als er uns sah, huschte ein schwaches, aber echtes Lächeln über sein Gesicht. "Schaut mal, wer sich hierher verirrt hat", krächzte er.
Wir setzten uns zu ihm. Trotz der Traurigkeit des Anlasses sprachen wir über unsere Jugend. Mit Freude und Nostalgie gruben wir alte Anekdoten aus. Wir lachten über Marios peinlichen ersten Versuch, ein Mädchen anzusprechen, und über Hans' legendären, missglückten Kochversuch beim Zelten. Damals zelteten wir oft in der Nähe von Petronell-Carnuntum, einer kleinen Marktgemeinde in Niederösterreich, bekannt für die Ausgrabungen einer römischen Stadt. Petronell hatte eine Diskothek, die wir im Sommer gerne besuchten. Unsere Zelte schlugen wir auf einer Wiese nahe der Donau auf, die seitlich vorbeifloss. Diese Ausflüge waren für uns immer ein Abenteuer.
Für kurze Momente schien der Krebs keine Rolle zu spielen. Die Krankheit, die im Raum schwebte, trat zurück, überdeckt von der Wärme unserer Erinnerungen. Doch als ich in Hans' Augen sah, in denen trotz des Lachens eine tiefe Müdigkeit lag, spürte ich, wie zerbrechlich dieser Frieden war. Der Abschied fiel schwer, und die Gewissheit, dass dies vielleicht einer unserer letzten Besuche sein würde, machte den Heimweg zu einem der traurigsten meines Lebens. Die dunkle Landstraße draußen spiegelte die Schwere wider, die nun auf unseren Herzen lastete.
Als Mario und ich das Krankenhaus verließen, biss die Kälte in unsere Gesichter. Die frische Luft wirkte wie ein Gegengewicht zum sterilen Geruch der Klinik. Wortlos schlenderten wir die Straße entlang, bis unser Blick auf das Café Dreier fiel – mehr als ein Kaffeehaus, ein Stück unserer gemeinsamen Geschichte. „Komm, Ben, lass uns auf einen Kaffee reingehen. “ – „Ja, warum nicht. “
Das Café Dreier stand noch immer da, wie in unserer Jugend, ein fester Punkt in der sich ständig wandelnden Stadt. Beim Eintreten umfing uns die vertraute Wärme, der Duft von frisch gebrühtem Kaffee, ein Hauch Zigarettenrauch und leise Nostalgie. Wir suchten uns eine ruhige Ecke, wo wir ungestört reden konnten, und sprachen über die alte Clique.
„Wie geht es Erich? “, fragte ich schließlich, nachdem wir unsere Melange bestellt hatten. Mario rührte nachdenklich in seiner Tasse. „Erich. .. ach, Erich bleibt Erich. Sein Rücken macht ihm noch immer zu schaffen, seit er sich beim Installateur-Job schwer verletzt hat. Aber er lässt dich grüßen. Er meinte, wir sollten weniger schimpfen, uns weniger ärgern und viel mehr lachen. “ Ein warmes Lächeln huschte über Marios Gesicht, und für einen Moment waren wir wieder die jungen Burschen, die hier ihre Zukunftspläne schmiedeten.
Dann war ich an der Reihe. "Und Sascha? Hast du etwas von ihm gehört?" Mario schüttelte den Kopf. "Leider nicht. Seit er nach Amerika gegangen ist, fehlt jede Spur. Keine Briefe, keine Anrufe. Typisch Sascha – immer auf der Jagd nach dem großen Abenteuer."
"Ja, das Abenteuer, das wir eigentlich zu dritt erleben wollten. Nach Amerika gehen und ein Tanzlokal eröffnen – unser großer Traum damals."
"Stimmt, Ben. Ich denke oft an diesen Traum zurück, den wir in den 80ern hatten."
Die Stimmung wurde schwerer, als die unausgesprochene Frage nach Christian im Raum hing. Keiner wollte sie laut stellen. Christian, der Freigeist, der Künstler, der so oft am Abgrund balancierte. "Lebt Christian überhaupt noch?" , murmelte ich vor mich hin. Mario seufzte tief. "Ich hoffe es. Das Letzte, was ich von ihm hörte, liegt Jahre zurück. Irgendwas mit Berlin. Er hat seinen Platz nie gefunden, der arme Kerl."
Um die Stimmung aufzulockern, sprach ich über Paulina. „Man sagt, sie wohnt jetzt in Simmering. Hast du etwas gehört?“ Mario nickte lebhaft. „Ja! Mein Neffe hat sie neulich im Supermarkt bei der U3-Station gesehen. Sie soll Kinder haben und sogar im Kindergarten arbeiten. Aus der wilden Paulina ist eine verantwortungsbewusste geworden. Wer hätte das gedacht? “
Unsere Clique war unzertrennlich. Im Mittelpunkt stand immer eines: du, Ben, und Paulina. Ihr wart für uns das Paar –eine Verbindung, die selten ist, still, aber für jeden offensichtlich. Paulinas Blicke suchten dich, Ben. Ihre Welt drehte sich um dich, und wir wussten, sie hätte alles für dich getan.
Dann geschah das Unfassbare. Ohne Vorwarnung warst du weg. Von einem Tag auf den anderen, ohne ein Wort, ohne Erklärung. Der Schock traf uns alle. Ratlosigkeit breitete sich aus, während Paulinas Strahlen erlosch. Ihre Augen, einst voller Leben, füllten sich mit Verzweiflung. Sie suchte bei uns Halt, fragte immer wieder nach dir, glaubte fast, wir hielten etwas vor ihr zurück, wüssten, wo du bist, und ließen sie absichtlich im Dunkeln. Jeder Tag ohne Antwort war ein Stich in ihr Herz – und in das unserer Freundschaft.
Monate voller Ungewissheit und Schmerz vergingen, bis die Nachricht einschlug wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Du hattest geheiratet. Ohne uns, deine Freunde. Keine Einladung, keine Erklärung, keine Chance, Abschied zu nehmen oder zu verstehen. Der Verrat traf uns kalt, wie der Bruch eines unausgesprochenen Versprechens von Loyalität.
Für Paulina war es der endgültige Schlag. Die Hoffnung, an der sie sich verzweifelt festgeklammert hatte, zerbrach brutal. Der Schmerz war zu groß, die Enttäuschung zu tief. Sie verließ die Clique, unsere Treffen, unsere gemeinsamen Erinnerungen. Ihr Abschied markierte das Ende einer Ära. Ohne sie, ohne die unschuldige Liebe, die wir in dir und ihr gesehen hatten, zerfiel auch der Rest der Gruppe. Wir gingen unsere eigenen Wege, die Bande, die uns einst so eng verbunden hatten, rissen unter der Last deines unerklärlichen Verschwindens und deiner endgültigen Entscheidung. Was bleibt, ist die melancholische Erinnerung an eine Liebe, die nie gelebt wurde, und die Frage, die mich bis heute quält: Warum, Ben?
Es war der Preis der Liebe, mein Freund. Genau so würde ich es heute nennen. Das Neonlicht der Bar flackerte, als ich sie zum ersten Mal sah: Lis. Eine Welle packte mich, riss mich aus meiner Welt aus Lärm, Zigarettenrauch und der festgefahrenen Clique. Liebe auf den ersten Blick – so stark, dass alles andere verblasste. Ich entschied mich, unumkehrbar: Lis wurde meine Welt. Ich ließ alles hinter mir, brach jeden Kontakt ab, um mich ganz dieser neuen Leidenschaft hinzugeben. Liebe und Schicksal wählen oft Wege, die wir nicht begreifen, Mario.
Wir zogen nach Simmering, ans Ende der Stadt, weit weg von den alten Treffpunkten. Bald heirateten wir – im kleinen, intimen Kreis, ohne Platz für meine Vergangenheit. Dann kamen die Kinder: drei wundervolle Seelen, die mein Leben mit Lachen und Sinn füllten. Meine Tage gehörten der Arbeit, dem Windeln wechseln, dem Vorlesen von Gutenachtgeschichten und der bedingungslosen Liebe zu meiner Familie. Die Erinnerung an die Jungs aus der Clique wurde ein leises Echo, ein fernes Rauschen.
Viele Jahre vergingen. Die Kinder waren aus dem Haus, Lis und ich ein eingespieltes Team. Manchmal, wenn ich im Fernsehen alte Fußballmannschaften sah oder ein Lied aus meiner Jugend hörte, dachte ich an meine Freunde von damals. Was war wohl aus Hans geworden, dem Witzbold? Und aus dir, Mario, unserem Gigolo? Hattet ihr Erfolg? Wart ihr glücklich? Der Gedanke, euch zu suchen, tauchte immer wieder auf. Doch der Alltag, die Angst vor dem, was ich finden könnte, oder die Gewissheit, dass die Zeit alles verändert, hielten mich davon ab.
Eines Nachmittags schlenderte ich durch die Straßen von Simmering, auf dem Weg zum Supermarkt. Auf einer Bank saß ein alter Mann. Sein Gesicht war von Falten durchzogen, die Haare grau und dünn. Doch etwas an seiner Haltung kam mir bekannt vor. Ich blieb stehen, mein Herz schlug schneller. Langsam ging ich näher.
„Karli? “, fragte ich zögernd. „Unser Karli, der immer diese orangefarbene Hose trug, obwohl er nicht bei der Müllabfuhrarbeitete? Der damals mit der schmächtigen Andrea zusammen war? “
„Ja, genau der Karli. “
„Okay, erzähl weiter, Ben. “
Der Mann hob den Kopf. Seine Augen verengten sich erst verwirrt, dann überrascht. Schließlich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Ben. .. das gibt’s doch nicht! Mein alter Freund, Ben! “
Wir schüttelten Hände, klopften uns auf die Schultern – fast wie Fremde, die eine alte, vertraute Sprache wiederfanden. Das Treffen war bittersüß, eine Brücke über Jahre des Schweigens. Über den Kontaktabbruch sprachen wir nicht; es spielte keine Rolle. Stattdessen erzählten wir von Kindern, Jobs und Krankheiten. Ich erfuhr, dass er ein erfolgreiches Restaurant in der Innenstadt führt und die Clique sich im Lauf der Jahre auseinandergelebt hatte – auch ohne sein Zutun. Doch Andrea blieb an seiner Seite und wurde seine Frau.
Als ich nach Hause ging, mischten sich Traurigkeit und Frieden in mir. Die Lücke, die ich so lange verdrängt hatte, war für einen Moment gefüllt. Ich hatte meinen Weg gewählt und bereue ihn nicht. Die Liebe zu Lis und meiner Familie ist das Zentrum meines Lebens – damals wie heute. Doch an diesem Tag spürte ich, dass das Schicksal mir nicht nur diesen Weg gezeigt, sondern auch eine zweite Chance gegeben hatte: die Chance, die Vergangenheit zu würdigen, ohne das Glück der Gegenwart zu hinterfragen.
Mario und ich lachten, und die alten Sorgen wichen einem Gefühl der Verbundenheit, das uns trotz der Jahre und unserer unterschiedlichen Wege nie verlassen hatte. Stundenlang saßen wir im Café Dreier, erzählten uns Geschichten von früher und genossen die schlichte, warme Gewissheit, dass dieser Ort und unsere Freundschaft die Zeit überdauert hatten. Als wir das Café verließen, schien die Kälte draußen weniger schneidend. Wir fühlten uns geerdet, ein Stück weit geheilt.
Tage später verwandelte sich die Simmeringer Hauptstraße plötzlich in einen Ort voller Erinnerungen. Zwei Jahrzehnte waren vergangen, seit ich Paulina und den Rest unserer alten Clique zuletzt gesehen hatte. Mein Freund Mario, mit dem ich in letzter Zeit oft über die Vergangenheit gesprochen hatte, empfand ähnlich: Die Zeit hatte uns entfremdet, und ein Wiedersehen mit der Clique schien unmöglich.
Dann geschah das Unfassbare. An einem gewöhnlichen Nachmittag, mitten im Trubel der Straße, sah ich sie: Paulina. Sie ging an mir vorbei, und selbst aus der Distanz blitzte in ihren Augen ein Funke des Wiedersehens auf. Hoffnung regte sich in mir – die Hoffnung, die ich all die Jahre trotz aller Zweifel bewahrt hatte, dass sie mir verzeihen könnte.
Doch als sich unsere Blicke treffen sollten, wandte sie den Kopf ab. Eine klare Geste der Ablehnung, als hätte sie mich nie gekannt. Es war ein Stich ins Herz, der meine tiefsten Ängste bestätigte. Die Wunden der Vergangenheit waren noch offen, und mein Wunsch nach einem einfachen Gespräch, nach einem Moment der Versöhnung, blieb unerfüllt. Die Simmeringer Hauptstraße hüllte sich weiter in Schweigen, und ich ging weiter – mit der bitteren Gewissheit, dass manche Brücken unwiderruflich zerstört sind.
**Schlusswort**
Vergessen ist das Geheimnis ewiger Jugend. Erinnerungen machen uns alt.
Kurzgeschichte aus Simmering
Andreas Kmeth
(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht)