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Das Café

Im Jahr 1988, in Wien-Simmering, begann die seltsame Geschichte von Sam und Lilli – oder setzte sich vielleicht endlos fort. Wer sie kannte, wusste: Sie waren ein Ehepaar, das ein halbes Jahrhundert miteinander verbracht hatte. Doch kaum jemand ahnte, dass sie noch etwas anderes teilten: den Tod.

Man erzählte sich später, sie hätten sich schon in ihrer Jugend unsterblich verliebt. Ihre Verbindung war warm und still, unberührt vom Lärm der Welt, der sich in die Herzen anderer fraß. So leise wie ihre Liebe war auch ihr Sterben: gemeinsam, Hand in Hand, im Schlaf. Niemand bemerkte es sofort. Niemand störte sie. Niemand wartete auf sie.

Das Seltsamste aber war: Sie selbst merkten es ebenso wenig.

Am Morgen nach ihrem Tod wachten sie wie immer auf, standen auf, zogen sich an und gingen, wie seit Jahrzehnten, zur Simmeringer Hauptstraße, ins Café Albrecht – ihrem zweiten Zuhause, das sie öfter besucht hatten als ihr eigenes Wohnzimmer.

Das Café war klein und etwas verblasst, mit einem Charme aus Zeiten, als Kaffeetassen dünner, Kellner schroffer und Gespräche leiser waren. Das Morgenlicht fiel träge durch die Fenster, als müsse es erst überredet werden, den Raum zu betreten. Es roch nach altem Kaffee, der sich tief in die Holzpaneele gefressen hatte, und nach den Geschichten zahlloser Gäste, die über Jahrzehnte darin versickert waren.
Sam und Lilli betraten das Café wie immer. Niemand beachtete sie, niemand grüßte. Das war nichts Neues. Gewohnheitsmäßig setzten sie sich an ihren Platz – immer derselbe, am Fenster, wo sie die Welt vorbeiziehen ließen. Sie bestellten zwei Melange und ein Semmerl, doch niemand schien sie zu bedienen. Trotzdem standen plötzlich zwei dampfende Tassen vor ihnen, randvoll, duftend.

Sie vermuteten, der Kellner habe sie gebracht, als sie kurz weggesehen hatten. Nichts fiel ihnen auf. Nichts. Nicht einmal, dass der Kaffee nie kalt wurde.

Jeden Morgen saßen Sam und Lilli dort, ohne Ausnahme. Sie beobachteten die Menschen, kommentierten sie, lachten leise über deren Eile, spürten deren Sorgen und Hoffnungen – immer als stille Zuschauer, nie als Teil dieser Welt.

„Siehst du den jungen Mann dort? “, fragte Lilli eines Tages und zeigte auf einen schlaksigen Burschen, der mit wehendem Mantel die Straße entlangging.

„Ein Musiker“, sagte Sam ohne Zögern. „Er sieht aus, als wäre er auf dem Weg zu einem Vorspiel, das alles für ihn bedeutet. “

„Oder zu einem Mädchen“, ergänzte Lilli, und beide schmunzelten.

Sie sprachen über die Passanten wie über Figuren in einem Theaterstück, das nur für sie gespielt wurde. Sie kannten diese Menschen nicht, doch in ihrer Fantasie schufen sie Leben, Geschichten, Schicksale. Bis zu jenem Morgen, als jemand vorbeiging, der anders war. Sein bloßer Anblick veränderte die Luft im Café – machte sie kälter, dichter, schwerer.
An einem trüben Mittwoch erschien er. Die Luft stand still, kein Hauch bewegte die dünnen Zweige der Alleebäume vor der Hauptstraße. Es war, als hätte die Zeit den Atem angehalten—bis er im Rahmen ihres Fensters auftauchte.
Ein Mann im langen, schwarzen Mantel. Sein Gesicht bleich wie Pergament, die Augen tief und unergründlich, als verschlängen sie Licht, statt es zu spiegeln. Er ging ruhig, fast schwebend, ohne Eile, doch mit der Sicherheit eines Menschen, der sein Ziel kennt.
„Hast du ihn schon mal gesehen? “, flüsterte Lilli.
„Nie“, antwortete Sam.
Sie dachten, er würde weitergehen. Doch er blieb stehen—direkt vor ihrem Fenster. Er sah nicht durch sie hindurch, wie es Lebende unbewusst mit Geistern tun. Nein, er starrte sie an.
Sein Blick schnitt wie kalter Stahl. Sam fröstelte, und Lilli griff instinktiv nach seiner Hand. Etwas Tieferes als jeder Gedanke sagte ihnen, dass dieser Mann nicht zufällig hier stand. Dann lächelte er. Ein dünnes, grausames, wissendes Lächeln. Langsam hob er die Hand und legte sie gegen die Scheibe—genau dort, wo Lillis Gesicht hinter dem Glas war. Und dann sprach er ein Wort, so leise, dass es wie ein Gedanke klang.
„Gefunden. “

Von diesem Tag an änderte sich alles.
Jedes Mal, wenn Sam und Lilli das Café betraten, wirkte es dunkler. Die Gäste verschwanden nach und nach, bis nur noch zwei alte Männer übrigblieben. Sie spielten schweigend Karten und sahen nie hinüber. Die Uhr über dem Eingang blieb stehen. Manchmal flackerte das Licht, als kämpfte es gegen eine unsichtbare Macht.

Der Mann im schwarzen Mantel kam näher. Zuerst stand er draußen. Dann saß er am Nebentisch. Schließlich direkt gegenüber. Er sprach nicht. Er bestellte nichts. Ob andere ihn sahen, wussten Sam und Lilli nicht. Doch sie sahen ihn. Und je näher er kam, desto sicherer waren sie: Seine Augen blickten nicht wie die eines Menschen—sondern wie die eines Jägers.

„Sam“, flüsterte Lilli, „ich glaube … wir gehören nicht mehr hierher. “

Sam wollte es nicht hören. Nicht aus Angst, sondern aus Verdrängung—der Art, die nur Toten eigen ist, die vergessen haben, dass sie tot sind. Doch in einer Nacht, als das Café leer und kalt war, hörten sie ihn zum ersten Mal sprechen. Seine Stimme war ein Wispern, das nicht durch die Luft drang, sondern direkt in ihre Gedanken kroch.
„Ihr seid zu lange geblieben. “

Sam wollte antworten, doch seine Lippen gehorchten ihm nicht. Lilli versuchte aufzustehen, doch ihre Beine blieben wie festgenagelt. Ein Gefühl, das sie nie zuvor gekannt hatten, legte sich über sie: eine bleierne Schwere, als hielte die Realität selbst sie fest. Der Mann im Mantel erhob sich langsam, als hätte er alle Zeit der Welt.

„Ihr lebt im Schatten eines Raums, der euch nicht mehr gehört“, sagte er. „Ihr sitzt an einem Tisch, der euch längst verlassen hat. Die Menschen gehen an euch vorbei, weil sie euch nicht mehr sehen. Ihr redet, doch niemand hört euch. Ihr erinnert euch, doch nichts erinnert sich an euch. “
Lilli weinte, doch keine Träne erreichte ihre Wangen. Sie verdampften, bevor sie fließen konnten. Sam starrte auf seine Hände. Zuerst sahen sie normal aus. Dann wurden sie durchsichtig. Schließlich schienen sie aus Rauch zu bestehen.
„Wir … wir sind tot“, flüsterte er.
„Seit vierundfünfzig Tagen“, sagte der schwarze Mann leise.

Plötzlich zerbrach der Schleier der Verdrängung. Erinnerungen loderten auf: das gemeinsame Einschlafen, das Verstummen des Atems, die Kälte der Nacht, die niemand spürte. Sie hatten es nie gewusst. Oder nie wissen wollen.

Sam griff nach Lillis Hand. Sie war da, fühlte sich aber nicht mehr wie Haut an—eher wie eine Erinnerung.
„Was willst du von uns? “, fragte Lilli.
Der Mann lächelte. Kein grausames Lächeln diesmal, sondern eines voller Wehmut.
„Ich bin kein Feind. Nur ein Bote. Ein Begleiter. Der, der euch abholt, wenn ihr zu lange bleibt. “
„Warum jetzt? “, flüsterte Sam.
Der Mann ließ den Blick durch das Café schweifen.
„Weil dieser Ort beginnt, euch zu verschlingen. “

Sam und Lilli folgten seinem Blick. Erst jetzt erkannten sie es.
Die Wände bestanden nicht mehr aus Holz. Sie pulsierten, atmeten, als wäre das Café ein lebendiges Wesen, das sie verschluckte. Die Uhr tropfte wie Wachs. Die Tische wirkten wie Schatten, nicht real. Der Boden war rissig wie die Oberfläche eines alten Friedhofs. Dieses Café war nie für die Toten gedacht. Und die Toten gehören nicht zu den Lebenden.

„Ihr müsst gehen“, sagte der Mann. „Sonst bleibt ihr hier. Und dieser Ort wird aus euch machen, was er will. “
„Wohin sollen wir gehen? “, fragte Lilli.

Der Fremde trat zurück. Die Tür des Cafés öffnete sich—doch dahinter lag nicht die Simmeringer Hauptstraße. Stattdessen dehnte sich ein schimmernder Nebel, durchzogen von fernen, glimmenden Lichtern. Keine Gefahr ging von ihm aus. Nur eine seltsame, bittersüße Ruhe.
„Dorthin“, sagte er. „Dorthin, wo ihr hingehört. “
Sam und Lilli sahen sich an. Ihre Hände berührten sich, und zum ersten Mal spürten sie keine Leere, sondern Wärme—als hätten sie sich selbst wiedergefunden.
„Gehen wir zusammen? “, fragte Lilli.
„Immer“, sagte Sam.
Sie standen auf. Der Tisch warf keinen Schatten. Die Stühle blieben reglos. Das Café atmete schwer, als wollte es sie halten. Doch sie gingen. Sie traten durch die Tür, und der Nebel schloss sich hinter ihnen wie ein sanftes Tuch.

Der Mann im schwarzen Mantel blieb kurz stehen, ließ den Blick durch das Café schweifen und seufzte leise. Dann hob er die Hand und strich ein letztes Mal über die verformte Wand.
„Es ist vorbei. “
Das Café bebte. Die Wände erstarrten. Die Uhr begann wieder zu ticken. Die Lampen leuchteten klar und warm. Und dann verschwand der Mann, als hätte ihn nie jemand gesehen.

Am nächsten Morgen öffnete das Café Albrecht wie immer. Gäste kamen, bestellten, lachten. Niemand bemerkte, dass zwei Stammgäste für immer fehlten.
Nur eines blieb zurück—eine winzige, fast unsichtbare Spur. Am Fensterplatz, wo Sam und Lilli jahrzehntelang gesessen hatten, standen zwei Kaffeetassen. Voll. Warm. Niemand wusste, wer sie bestellt hatte. Sie blieben dort den ganzen Tag. Und am Abend waren sie fort.
Nicht geleert. Nicht abgeräumt. Fort.
In den folgenden Jahren berichteten einige Gäste – meist ältere Damen – gelegentlich, sie hätten zwei Gestalten am Fenster gesehen. Eine Frau, die sanft lächelte. Einen Mann, der ihre Hand hielt. Doch bei genauerem Hinsehen war niemand da. Und wenn im Winter der Wind über die Simmeringer Hauptstraße fegte, glaubten manche, eine Stimme zu hören:
„Immer. “

Nach Sams und Lillis Verschwinden kehrte im Café Albrecht ein trügerischer Friede ein. Die Gäste plauderten wieder, die Kellner scherzten. Alles wirkte normal. Doch diese Normalität fühlte sich an wie Lack auf morschem Holz: ein dünner Glanz, der etwas Dunkles verbarg.

Der Fensterplatz, an dem Sam und Lilli jahrzehntelang gesessen hatten, blieb auffällig oft leer. Wer dort Platz nahm, fühlte sich unwohl, ohne zu wissen warum. Manche sagten, es sei dort kälter. Andere spürten ein leises Ziehen im Nacken, als stünde jemand hinter ihnen.

Die Besitzerin, Frau Albrecht, eine gebeugte, schweigsame Frau, die nur noch aus Pflichtgefühl arbeitete, wischte eines Morgens den Tisch. Plötzlich hielt sie inne. Ihre Finger berührten eine dünne, fast unsichtbare Schicht Reif.

Reif. Im Innenraum. Im August.

Sie zog die Hand zurück, als hätte sie etwas Lebendiges gespürt. Dann rieb sie über die Stelle – der Reif schmolz sofort.
„Ein Luftzug“, murmelte sie, doch ihre Stimme klang unsicher.

Nicht lange danach tauchte ein Fremder in der Simmeringer Hauptstraße auf. Seine bloße Anwesenheit löste unheilvolle Gerüchte aus, noch bevor er das Café betrat. Er war nicht der unheimliche Begleiter, der Sam und Lilli geholt hatte. Nein– dieser Mann war anders. Er war lebendig.
Sein Name war Johann Rottmann, ein Autor auf der Jagd nach Inspiration – so erzählte er es jedem. Doch wer ihn beobachtete, sagte später, er habe von Anfang an gewirkt wie einer, der nicht suchte, sondern wusste, wohin er wollte. Am ersten Tag nahm er einen Platz nahe der Theke. Am zweiten rückte er ans Fenster. Am dritten setzte er sich genau dorthin, wo sonst Sam und Lilli saßen. Und in diesem Moment, so berichteten manche später, flackerten alle Lampen im Raum.

Rottmann schien es nicht zu bemerken. Er zog ein Notizbuch hervor, einen ledergebundenen Band, dessen Ränder seltsam dunkel wirkten, als hätte Rauch sie gestreift.
Er schrieb. Und schrieb. Stundenlang.

Als Frau Albrecht ihn fragte, was er notiere, hob er langsam den Kopf. Seine Augen schienen zu viel zu sehen.
„Ich schreibe, was noch da ist“, sagte er.
„Was meinen Sie? “, fragte sie.
„Die Reste“, antwortete er.

In den folgenden Wochen wurde Rottmann Teil des Cafés. Er sprach kaum mit den anderen Gästen, doch immer wieder lauschte er, als höre er Stimmen, die niemand sonst wahrnahm.

Eines Morgens jedoch erstarrte er, als er seinen Platz erreichte. Zwei Kaffeetassen standen bereits auf dem Tisch. Dampfend. Frisch. Voll.
„Wer hat die hingestellt? “, fragte er die Bedienung.
Die Kellnerin schwor, sie habe den Tisch nicht angerührt.

Trotzdem setzte er sich. Zögernd legte er die Hand an eine der Tassen. Die Hitze verbrannte ihn nicht. Stattdessen durchfuhr ihn ein eisiger Schauer, als berühre er nicht Porzellan, sondern etwas Fremdes – eine Erinnerung, die nicht seine war.

Er schloss die Augen. Und dann hörte er sie. Zwei Stimmen. Leise, gedämpft wie durch dickes Glas. Eine Frau. Ein Mann.
„Sam … ich glaube, wir sind noch nicht weg. “
„Ich weiß … ich fühle es auch. “

Rottmann zog die Hand zurück. Sein Herz raste. Eine fremde Kälte kroch in seine Knochen – nicht die des Wetters. Er schlug sein Notizbuch auf. Die Tinte auf der Seite glänzte noch feucht.

„DIE TÜR WAR NICHT FÜR IMMER GESCHLOSSEN“, stand dort.

Rottmann starrte auf die Worte. Er hatte sie nicht geschrieben, das wusste er. Doch etwas in ihm flüsterte, dass sie für ihn bestimmt waren.

Am Abend desselben Tages saß er im fast leeren Café. Draußen drückte die Dunkelheit gegen die Fenster, nur das matte Licht der Laternen drang herein. Rottmann war der Letzte. Er schrieb, als triebe ihn eine unsichtbare Kraft. Die Luft um ihn flimmerte. Dann sah er sie. Zuerst nur als Schatten im Spiegel hinter der Theke: zwei Gestalten, die nicht zu den Gästen passten. Dann als Schemen, kaum greifbar, aber deutlich genug, um ihre Umrisse zu erkennen. Sie standen am Eingang. Sam. Lilli.

Nicht wie Menschen. Aber auch nicht wie Geister aus Märchen. Sie waren … dazwischen. Unvollendet. Halb im Raum, halb im Dunkel dahinter. Ihre Gesichter schienen durch Wasser zu treiben – weich, verzerrt, fließend. Lillis Hände tasteten nach etwas, das sie nicht fassen konnte. Sams Blick irrte suchend durch den Raum. Dann trafen ihre Augen ihn. Johann Rottmann.

Sie sahen ihn. Nicht die anderen. Ihn. Lilli öffnete den Mund – kein Laut drang heraus, doch Rottmann hörte sie trotzdem.
„Du musst uns helfen … wir sind nicht da, wo wir sein sollten …“
Sam trat vor, seine Gestalt flackerte wie eine Kerze im Sturm.
„Er hat uns in die Zwischenwelt gestoßen … aber sie gehört nicht uns … wir stürzen … wir verschwinden …“

Rottmann zitterte. Er wollte aufstehen, doch seine Beine versagten.
„Was soll ich tun? “, flüsterte er.
Sam hob eine zitternde Hand.
„Die Tür … die er geöffnet hat … sie ist wieder hier … bei dir. “

Lilli folgte seinem Blick. Er ruhte auf Rottmanns Notizbuch. Plötzlich bebte der Raum. Die Tür des Cafés knarrte. Ein Windstoß fegte hindurch, obwohl die Fenster geschlossen waren. Hinter der Scheibe, im plötzlich aufziehenden Nebel, formte sich ein dunkler Schatten. Nicht der Mann, der sie geholt hatte. Etwas anderes. Etwas Größeres. Etwas, das nie für diese Welt bestimmt war. Sam und Lilli schrien lautlos, ihre Körper verzerrten sich, als zögen unsichtbare Fäden an ihnen.
„Er kommt! “ „Schließe die Tür! “

Der Schatten wuchs. Rottmann stand auf, griff nach seinem Notizbuch. Im selben Moment erlosch jedes Licht im Café. Was in dieser Nacht geschah, blieb ein Rätsel. Am nächsten Morgen fand Frau Albrecht das Café makellos aufgeräumt—doch Rottmanns Notizbuch lag offen auf dem Tisch. Nur eine Seite war beschrieben.
„DIE TÜR IST GEÖFFNET. “

Rottmann war fort. Am Fenster standen zwei Kaffeetassen. Voll. Warm.
Auf dem Tisch lag Reif.

Niemand bemerkte sofort, dass Johann Rottmann verschwunden war. Er war ein Fremder, der kaum sprach. Einer, nachdem niemand fragte. Nur die Besitzerin des Cafés wusste, dass er jeden Tag zur gleichen Zeit erschien. Doch an diesem Morgen spürte Frau Albrecht, dass etwas anders war. Die Luft im Café schien geladen. Die Gäste tuschelten weniger. Die Kellnerinnen bewegten sich träge. Der Raum wirkte … wartend.

Dann fand sie das Notizbuch. Vier Worte standen darin:
„DIE TÜR IST GEÖFFNET. “

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie wollte das Buch zuschlagen, doch etwas hielt sie ab. Ein Instinkt, tiefer als Angst—unbequemer. Etwas flüsterte in ihr:
Du hast das schon einmal gesehen … Aber sie erinnerte sich nicht. Noch nicht.

Frau Albrecht war alt, aber nicht töricht. Skeptisch, pragmatisch, geerdet wie die Generation, die den Krieg überlebt hatte. Doch an diesem Morgen sah sie etwas, das selbst sie erschreckte:
Reif. Auf dem Tisch. Im August. Und im Reif Abdrücke. Zwei Finger. Klein, zart. Fast wie die eines Kindes, wären sie nicht zu weit auseinander gewesen.

Langsam drehte sie sich um, als stünde jemand hinter ihr.
Niemand. Doch die Luft vibrierte.

Sie griff nach dem Notizbuch, wollte es mitnehmen. Doch als ihre Finger das Leder berührten, hörte sie eine Stimme. Leise, aber unmissverständlich. Eine Stimme, die nicht aus der Welt der Lebenden kam.

„Er hat uns nicht zurückgebracht. “

Frau Albrecht zuckte zusammen. Das Buch entglitt ihren Händen, fiel zu Boden und schlug offen auf. Eine neue Seite kam zum Vorschein. Gestern war sie noch leer gewesen.
„WIR HABEN NICHT MEHR VIEL ZEIT. “

Weit entfernt vom Café – oder vielleicht nur einen Atemzug entfernt – erwachte Johann Rottmann. Er lag nicht, er schwebte. Um ihn herum wogte weißer Nebel, der sich wie eine fließende Wand krümmte. Orientierungslos tastete er nach Halt. Es gab keine Richtung, kein Oben, kein Unten. Er wollte schreien, doch der Nebel verschluckte jeden Laut. Kein Echo, nur Stille. Dann hörte er Schritte. Zuerst fern, dann näher. Ein Paar. Leise, harmonisch, aber zittrig, als würde der Boden unter ihnen schwanken.

„Sam… ich glaube, er ist wach. “
„Ja. Aber er ist noch nicht bei uns. “

Die Stimmen. Dieselben, die er im Café gehört hatte. Und dann sah er sie: Sam und Lilli. Oder das, was von ihnen übrig war. Ihre Gestalten wirkten klarer, weniger verzerrt, doch sie warfen keinen Schatten. Ihre Körper schimmerten wie Glas, das jeden Moment zerspringen könnte. Lilli schwebte näher.

„Du hast uns gesehen“, sagte sie. „Du bist der Erste seit… ich weiß nicht, wie lange. “

Rottmann wollte fragen, wo er war, was geschehen war. Doch Sam hob die Hand.
„Es bleibt wenig Zeit. Sie folgt uns. “
„Wer? “, keuchte Rottmann.

Lilli drehte sich langsam um. Der Nebel hinter ihr verdunkelte sich. Ein massiver Schatten wuchs heran, formlos, aber voller Absicht.
„Der Nebel ist nicht nur ein Ort“, flüsterte sie. „Er lebt. “
„Ein Gefängnis“, sagte Sam.
„Ein Jäger“, hauchte Lilli.
„Er verfolgt uns, seit der Mann in Schwarz uns hierherbrachte. Wir hätten die Tür nicht öffnen dürfen. Der Weg war nicht für uns. Und als wir eintraten… hat er uns gespürt. “

Rottmann spürte, wie die Kälte des Nebels in seine Knochen kroch.
„Warum ich? “, fragte er. „Warum höre ich euch? “
Sam sah ihn lange an.
„Weil du die Tür geöffnet hast. “

Lilli zeigte auf das Notizbuch, das plötzlich in Rottmanns Hand lag, als hätte es nie wo anders sein können.
„Das gehört dir nicht“, flüsterte sie. „Du hieltest es für ein Notizbuch. Aber es ist ein Faden. Ein Schlüssel. “
„Ein Werkzeug“, fügte Sam hinzu.
„Eines, dass du nicht gewählt hast“, sagte Lilli.

Rottmann schluckte. Seine Finger ruhten auf einer Seite, die er nicht geschrieben hatte:
„DU BIST DER NÄCHSTE WÄCHTER. “

 

„Wächter? “, fragte Rottmann heiser. „Wovon? “

Sam und Lilli tauschten einen Blick. Ihre Körper flimmerten.
„Der Tür“, sagte Sam.
„Zu dieser Welt“, flüsterte Lilli.
„Und zu dem, was dahinter lauert. “

Ein tiefes Grollen durchbrach das Weiß. Der Nebel verdichtete sich. Ein Schatten nahm Gestalt an—hoch, unnatürlich lang, gekrümmt wie ein knochenloses Wesen, das sich dennoch bewegte. Rottmanns Herz raste, obwohl er nicht sicher war, ob es hier überhaupt schlug.
„Es hat uns gewittert“, sagte Lilli. „Es jagt Erinnerungen. Und wir… wir erinnern uns. “
„Woran? “, fragte Rottmann.
„An das Leben“, sagte Sam.
„Und das darf es nicht zulassen“, flüsterte Lilli. „Nicht hier. “

Der Schatten schoss vor. Ein Arm formte sich—lang, klaffend, aus Nebel, mit einem Kern aus Schwärze. Er packte Lilli. Sie schrie. Ihr Körper zerfiel zu Funken aus Licht.
„NEIN! “, schrie Sam und sprang vor.
Doch als er den Schatten berührte, schleuderte es ihn zurück. Sein Körper verlor die Konturen, wurde halb durchsichtig.
„Sie nimmt uns! “, rief er. „Rottmann! Du musst—“
Der Satz brach ab. Rottmann starrte auf das Buch in seinen Händen. Es schrieb sich von selbst:

**„SCHLIEẞE DIE TÜR ODER WERDE TEIL DES NEBELS. “**

Das Wesen kam näher. Es sog Lillis Licht in seine Schwärze. Sam schrie ihren Namen—lautlos, aber voller Verzweiflung. Dann geschah es. Rottmann spürte einen Riss in der Luft. Einen schmalen Spalt. Eine Tür. Hinter ihm. Unsichtbar, doch spürbar. Wie ein Zugwind in einer windlosen Welt.

Er wusste:
Das war die Tür, durch die Sam und Lilli gegangen waren.
Die Tür, die sie nie hätten öffnen dürfen.
Die Tür, die er nun beherrschen musste.

„Rottmann! “, rief Sam. „Wenn du sie nicht schließt, wächst die Zwischenwelt! Sie wird das Café verschlingen! Die Simmeringer Hauptstraße! Deine Welt! “

Der Nebel brüllte.
Das Wesen war direkt hinter ihm. Rottmann hob das Notizbuch. Seine Finger zitterten. Er fühlte den Spalt, das Pochen, das Atmen der Tür. Sie wartete. Und dann geschah etwas, das nicht geschehen durfte.

Lillis Stimme. Leise. Verzerrt. Zerbrechend.
„Johann… bitte… lass uns nicht zurück…“

Sam schrie:
„Tu es nicht! Wenn du sie offenlässt, holt es dich auch! “

Rottmann schloss die Augen. Er traf seine Entscheidung. Er riss das Notizbuch auf. Nicht zu einer leeren Seite. Sondern zu einer, die erst jetzt erschien. Eine Seite, die brannte.

**„DIE TÜR ZU SCHLIESSEN BEDEUTET ZU WERDEN WIE SIE. “**

„Wie wer? “, flüsterte Rottmann.
Und dann begriff er. Der Wächter vor ihm. Der Mann im schwarzen Mantel. Der, der Sam und Lilli geholt hatte. Er war kein Bote gewesen. Er war der vorige Wächter. Und Rottmann war sein Nachfolger. Die Wahl lag klar vor ihm.
1. Tür schließen – das eigene Leben opfern, doch die Welt retten.
2. Tür offenlassen – Sam und Lilli retten, aber die Zwischenwelt entfesseln.

Das Wesen brüllte. Lilli flehte. Sam schrie. Rottmann atmete tief ein, öffnete den Mund – und sprach das Wort, das in seinem Herzen loderte.
Der Nebel schlang sich um Johann Rottmann wie ein gieriger Schlund. Lillis Licht verging, dünn wie Rauch. Sam brüllte ihr stumm hinterher. Das Wesen war nah. Zu nah. Rottmann spürte, wie es nach ihm griff, nach seinem Verstand tastete, ihn verschlingen wollte. Dann sprach er. Ein einziges Wort.
So alt, dass keine menschliche Schrift es kannte. So schwer, dass die Luft im Nebel zu Glas erstarrte. So mächtig, dass das Wesen zurückwich wie ein brennendes Tier. Es war kein Wort einer Sprache. Es war ein Befehl.
„SCHLUSS. “

Die Tür hinter ihm explodierte in weißem Licht. Der Nebel schrie—nicht vor Schmerz, sondern vor gekränkter Gier. Der Spalt begann sich zu schließen. Langsam. Unaufhaltsam. Sam wurde zurückgerissen. Das Wesen griff nach ihm, doch die Tür verschlang ihn zuerst. Seine Gestalt zerfiel—nicht zu Nichts, sondern zu einem stillen, goldenen Funken, der sich in Rottmanns Brust legte.
Und Lilli?
Ihr Licht zerriss. Ein Teil entkam. Ein anderer wurde verschlungen. Rottmann sah es. Er begriff. Und er wusste:
Er hatte sie nicht ganz verloren. Aber auch nicht ganz gerettet. Dann fiel die Tür zu. Lautlos. Schwarz. Stille. Nichts.

Rottmann erwachte im Café. Mitten in der Nacht. Alle Lichter waren aus. Die Tische leer. Vor ihm lag das Notizbuch. Geschlossen. Er hob es auf. Die Luft war kalt—nicht die Kälte des Winters, sondern die eines Ortes, der ihn kannte. Er versuchte aufzustehen. Sein Körper gehorchte. Doch sein Schatten blieb sitzen. Erst da begriff Rottmann, was geschehen war. Er blickte an sich hinab. Seine Kleidung war dieselbe. Doch um seine Silhouette lag ein dunkler Mantel—nicht getragen, sondern gewoben aus Finsternis, aus Idee, aus Pflicht. Der gleiche Mantel, den der vorige Wächter trug. Heiser flüsterte er:
„Nein…“

Das Café empfing ihn mit einer eisigen Welle, die durch den Raum strich. Er war der neue Wächter.
In einer Ecke löste sich eine Gestalt aus der Dunkelheit. Langsam, zögernd, als gehöre sie nicht ganz in diese Welt.
Ein alter Mann. Blass. Durchscheinend. Die Augen tief eingesunken. Der vorige Wächter.
„Du verstehst jetzt“, sagte er. Keine Frage, nur Feststellung. „Die Tür braucht immer jemanden, der sie bewacht. “
„Warum ich? “, flüsterte Rottmann.
Der alte Mann lächelte. Traurig. Erschöpft.
„Weil du sie gesehen hast. “
Er trat näher.
„Weil du sie gehört hast. “
Noch näher.
„Weil du sie… gerufen hast. “
Rottmann erstarrte.
„Gerufen? “
„Du hast geschrieben, Rottmann. Geschichten über den Tod. Über Geister. Über jene, die zwischen den Welten hängen. Jede Geschichte ist ein Ruf. Und manche Türen antworten. “

Rottmann spürte, wie sein Atem stockte. Die Luft wurde schwer.
„Ich wollte nur Inspiration…“
Der alte Wächter lachte bitter.
„Niemand will den Mantel. Niemand. Aber jemand muss ihn tragen. Denn ohne den Wächter…“
Er deutete zum Fenster.
„…kommt der Nebel. “

Rottmann ging langsam zum Fenster. Seine Schritte klangen seltsam. Wie ein doppeltes Echo. Einmal für ihn. Einmal für seinen Schatten, der nicht mehr folgte. Er legte die Hand ans Glas. Draußen lag die Simmeringer Hauptstraße im gelblichen Licht der Laternen. Doch am Ende der Straße regte sich etwas. Eine Bewegung. Eine dunkle, fließende Masse, die nicht von dieser Welt war.
Der Nebel.
Er hielt ihn nicht auf. Er sperrte ihn nur aus. Für den Moment. Dann hörte er es:
Ein Flüstern. Zart. Traurig. Verloren. Lilli.
„Johann… ich bin nicht ganz… hol mich…“

Sein Herz zerbrach. Ein zweites Flüstern folgte – das Wesen im Nebel.
„Öffne die Tür… Wächter…“

Rottmann wich zurück. Das Notizbuch vibrierte. Sanft. Warnend. Oder lockend. Er schlug es auf. Auf der ersten Seite stand:
„DER WÄCHTER DARF DIE TÜR NUR EINMAL ÖFFNEN. “

Darunter erschien eine neue Zeile, frisch in schwarzer Tinte:

„DAS NÄCHSTE MAL ENTLÄSST SIE NICHT NUR DIE TOTE, SONDERN AUCH DIE DUNKELEN. “

Rottmann klappte das Buch zu, erschüttert. Der alte Wächter musterte ihn lange.
„Bist du bereit? “, fragte er.
„Wofür? “, flüsterte Rottmann.
Der alte Mann blickte zum Fenster.
„Für das, was jede Nacht kommt. “
„Und wenn ich mich weigere? “
Der Wächter deutete auf seinen eigenen Körper, halb durchsichtig, wie eine verblassende Erinnerung.
„Dann wirst du wie ich. Eine Hülle. Ein Echo. Und der Nebel wird sich holen, was du nicht hältst. “

Er trat näher, legte Rottmann eine Hand auf die Schulter. Eine Hand ohne Wärme.
„Der Mantel gehört dir. Die Tür braucht dich. Und Lilli…“
Rottmanns Atem stockte.
„Was ist mit ihr? “
Der alte Wächter sah ihn an, voller Mitleid und Bedauern.
„Sie ist jetzt Teil von beidem. “

In dieser Nacht blieb Johann Rottmann lange im Café sitzen. Das Notizbuch lag vor ihm. Der Mantel wärmte seinen Körper. Und die Tür ruhte unsichtbar in ihm. Draußen kroch der Nebel näher. Lillis Stimme rief.
Rottmann wusste:
Er konnte sie nur retten, wenn er alles riskierte. Doch was lauerte wirklich im Nebel – und warum wollte es Lilli?

Schwere Dunkelheit lag über Simmering. Die Nachtlichter flackerten, Schatten glitten über die Straßen. Tief im Café Albrecht saß Johann Rottmann allein. Der Mantel des Wächters hing über seinen Schultern, das Notizbuch lag in seiner Hand.

Draußen regte sich der Nebel. Er brauchte keine Form mehr. Er wusste, dass der Wächter ihn sah. Rottmann atmete flach. Dann hörte er es: zwei Stimmen. Eine davon kannte er.

„Johann… ich vermisse dich…“

Lilli.
Ihre Stimme klang wie ein splitterndes Echo, zerrissen zwischen Sehnsucht und Schmerz. Die andere Stimme war tief, ein grollendes Wispern, das wie eine Krankheit durch die Nacht kroch.

„Öffne… die Tür…“

Das Nebelwesen. Das Buch in Rottmanns Hand vibrierte, als schlüge darin ein Herz voller Angst. Der alte Wächter tauchte wieder auf, blasser als zuvor, kaum mehr als Rauch.

„Johann“, sagte er. „Die Tür ist kein Durchgang. “
Rottmann hob den Blick.
„Was ist sie dann? “
Der alte Wächter zögerte, dann flüsterte er:
„Eine Wunde. “

Rottmann erstarrte.
„Eine Wunde zwischen den Welten. Ein Riss, der nie hätte entstehen dürfen. “
„Und wer hat sie geöffnet? “, fragte Rottmann.
„Der erste Wächter“, sagte der Alte. „Vor Jahrhunderten. Ein Mann, der seine tote Tochter zurückholen wollte. “

Er senkte den Blick.
„Er hat sie nie gefunden. Aber das, was den Nebel formt… hat ihn gefunden. “

Rottmann sog die Luft ein, als hätte er Eis verschluckt.
Der Nebel war kein Ort. Kein Dahinter. Er lebte, ein Trauma aus Schmerz geboren, dass nur Schmerz kannte. Lilli war darin gefangen.
„Ich muss sie retten“, sagte Johann.
Der alte Wächter lächelte traurig.
„Man kann niemanden retten, der im Nebel ist. “
„Sam hat es geschafft“, widersprach Johann.
„Sam wurde verschlungen“, entgegnete der Alte. „Du trägst nur den Funken seiner Erinnerung. “
Ein Funken, der schwach glomm und mit jeder Minute erlosch.
Eine Böe Nebel drückte gegen das Fenster. Das Glas vibrierte, ein Riss zog sich hindurch. Lilli schrie – ein dünner Laut, wie ein Funke, der im Wind verlischt.
„Johann… bitte… es tut weh… hol mich…“

Rottmann spürte, wie sein Herz brannte – nicht vor Liebe, sondern vor Schuld. Der Riss in ihrer Stimme zerriss ihn. Der alte Wächter trat näher.
„Du musst jetzt wählen“, sagte er.
„Welche Wahl? “
Der Alte hob den Finger.
„Die Tür ein letztes Mal öffnen…“
Ein Schauer durchfuhr den Raum, die Lampen flackerten.
„… und Lilli befreien. Doch der Nebel kommt mit ihr. Simmering wird fallen. “
Rottmann schluckte.
„Oder? “
„Oder du schließt die Tür… für immer. “
„Was bedeutet das? “
Der alte Wächter sah ihn an.
„Du, Johann… musst die Wunde versiegeln. Von innen. “
Rottmann begriff. Er sank in sich zusammen. Er würde sterben. Nicht wie Sam. Nicht wie Lilli.
Nicht wie ein Mensch. Sondern als Wächter. Als Opfer. Als Siegel.
„Wenn ich das tue“, flüsterte er, „was wird aus Lilli? “
Der alte Wächter senkte den Blick.
„Sie wird… verschwinden. “
„Wird sie leiden? “
„Nein“, sagte der Alte. „Sie wird nicht mehr sein. “

Es war ein Ende. Endgültig. Grausam. Befreiend.

Der Nebel zerschlug die Fensterscheibe. Kälte drang herein – fremd, nicht von dieser Welt. Das Wesen erhob sich: ein Berg aus Schwärze, aus hungrigem Vergessen. Lillis Stimme hallte, verzerrt:
„Johann… ich will heim…“

Er sah sie in der Dunkelheit. Ein zerbrochenes Licht. Ein Echo eines Menschen. Sie war nicht mehr Lilli. Nur das letzte Stück, das der Nebel nicht verschlingen konnte. Ein Rest ihrer Liebe. Und er wusste: Zeigt er Mitleid, wird der Nebel frei.
„Lilli…“, flüsterte er.
Die Antwort war ein Schrei.
„ICH WILL NUR DICH! “

„Du bist nicht mehr du“, sagte Johann leise.
Er schlug das Notizbuch auf. Die letzte Seite schrieb sich selbst:
„UM DIE WUNDE ZU SCHLIEßEN, MUSST DU DURCH SIE GEHEN. “

Der Nebel brüllte. Rottmann trat vor. Sein Mantel flog auf wie dunkle Flügel.
„Komm! “, schrie das Wesen.
„Gib nach! Öffne mich! “

Doch Rottmann öffnete keine Tür. Er trat hindurch. Er ging in den Nebel. Im selben Moment begann die Tür – die Wunde– zu glühen. Der alte Wächter rief:
„JETZT! SCHLIEß SIE IN DIR! “

Rottmann schlug das Buch zu. Ein dumpfer Schlag. Die Tür zersprang. Der Nebel schrie. Lillis Licht zerbarst in tausend Stücke – ein farbloser Regen, der verglühte.

Johann Rottmann wurde Teil des Risses. Warmes Licht füllte den Raum. Einmal. Dann erlosch alles.

Am nächsten Morgen fanden die Gäste des Café Albrecht die Scheiben heil. Kein Nebel. Keine Spuren im Reif. Keine rätselhaften Tassen. Nur ein Notizbuch lag auf dem Fensterplatz. Leer. Frau Albrecht hob es auf. Auf der letzten Seite stand eine einzige Zeile:
„DIE TÜR IST ZU. “

Sie blickte auf die Simmeringer Hauptstraße. Die Luft war klar. Still. Befreit. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf den Stuhl am Fenster:
Ein dunkler Mantel. Faltig. Leer. Verlassen. Er rührte sich nicht. Er atmete nicht. Er wartete nicht. Er war nur noch ein Überbleibsel. Ein totes Überbleibsel. Die Tür war wirklich zu. Für immer. Und der Nebel kam nie zurück.
Sam? Lilli? Johann?
Sie waren weg. Nicht gefangen. Nicht leidend. Nicht schwebend. Einfach … weg. Wie Träume, die verblassen, sobald man die Augen öffnet.
Und das Café Albrecht?
Es blieb ein gewöhnlicher Ort. Vielleicht stiller, vielleicht ernster. Doch nie wieder… heimgesucht.


Schlusswort
Wir erinnern uns so gern, weil wir in der Erinnerung jung bleiben und leben.

 

 

Kurzgeschichte aus Simmering

 

 

Andreas Kmeth                                                              

(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht)                                                                                                                             

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