
Blutige Jahreswende
Die Geschichte, die ich, Sam, euch erzähle, wirkt, als hätte sie sich erst gestern ereignet. So lebendig erscheint sie mir, obwohl drei Jahrzehnte vergangen sind. An einem kühlen Wintertag im Dezember der späten 80er Jahre führte das Schicksal mich zu meiner Frau Lis. Ihr süßes Lächeln und die wunderschönen langen, lockigen schwarzen Haare faszinierten mich sofort. Ich wusste gleich, sie ist die Frau, mit der ich mein Leben teilen möchte. Damals lebte sie noch bei ihrer Mutter Magret und ihrem jüngeren Bruder Ruby. Ihr Zuhause lag in der Gartensiedlung Neugebäude, nahe dem Schloss Neugebäude, einer Renaissance-Anlage, die ab 1568 entstand.
Schon bald lernte ich ihre Mutter kennen. Der Abend war amüsant, voller Humor. Wir sprachen über vieles. Sie erzählte, dass sie wie ich im dritten Wiener Bezirk aufwuchs, an wen sie sich erinnerte und warum sie den Bezirk wechselte. Mit Magret verstand ich mich sofort. Ihre Freundlichkeit ließ mich entspannen, die Nervosität verflog im Nu. Beim Plaudern vergaßen wir die Zeit, und plötzlich war es Mitternacht.
„Wenn du magst, kannst du bei uns übernachten“, bot Magret an.
Ich bedankte mich herzlich und nahm die Einladung freudig an. Am nächsten Morgen schaute ich aus dem Fenster und staunte: Über Nacht hatte es geschneit. Die Stadt lag unter einer weißen Decke, Bäume, Häuser und Gärten verwandelten sich in eine Winterlandschaft. Für mich, der in der grauen Stadt aufwuchs, war dieser Anblick kaum zu fassen.
„Komm, lass uns im Schnee spazieren gehen. Ich zeige dir das Schloss, den Friedhof gegenüber und die Gartensiedlung“, sagte Lis.
Im Schloss angekommen, entdeckte ich im Innenhof einen alten Steinbrunnen, auf dem wir Platz nahmen. Lis erzählte, dass Teile der ursprünglichen Anlage abgebaut und in den Schlosspark Schönbrunn gebracht wurden. Angeblich ließ Maria Theresia wertvolle Elemente, vor allem für den Bau der Gloriette, dorthin abtransportieren. Auch soll es im Schloss eine alte Grotte geben, die als die älteste im deutschsprachigen Raum gilt. Leider fanden zu dieser Jahreszeit keine Führungen statt, also setzten wir unseren Spaziergang zum Friedhof fort.
Damals verband ich Friedhöfe nur mit Begräbnissen oder Trauerbesuchen für verstorbene Angehörige, nicht mit Spaziergängen. Doch Lis belehrte mich eines Besseren. Sie zeigte mir, wie wunderschön der Friedhof im Winter war. Die verschneiten Gräber mit leuchtenden Kerzen, die herumtollenden Tiere wie Eichhörnchen, Hamster und sogar seltene Rehe, die auf Futtersuche Spuren im Schnee hinterließen, die mir zuvor nie aufgefallen waren. Nach einem langen Spaziergang auf dem Friedhof kehrten wir langsam zur Gartenanlage zurück.
Auf dem Weg dorthin erzählte mir Lis von ihren Großeltern, die in einem Haus lebten, das einem italienischen Bungalow glich. Als ich es sah, verstand ich sofort: Der Anblick war hinreißend. Besonders hob sie ihre Großmutter hervor, die meisterhaft kocht und backt und an Feiertagen für die Familie ein Festmahl zaubert. Ihr ausgezeichneter Apfelstrudel ist in der ganzen Gartensiedlung berühmt.
Mit freudiger Erregung erzählte sie mir ausführlich von ihren Jugendfreunden, mit denen sie eine Gruppe bildete, die den Vereinsvorstand tatkräftig bei Siedlungsveranstaltungen unterstützte. Diese fanden meist im Schutzhaus statt, dem Gasthaus der Siedlung, das mit einem großen Saal ausgestattet ist und den Kern der Siedlung bildet. Als wir am Feinkostladen vorbeikamen, der neben dem Schutzhaus liegt und in dem ihre Mutter arbeitet, trafen wir Rena, ihre langjährige Freundin, die sie seit ihrer Kindheit ins Herz geschlossen hat.
Lis stellte uns einander vor, und wir unterhielten uns eine Weile. Rena lud uns ein, den Jahreswechsel bei ihren Eltern mit Freunden und ihr zu feiern. Wir sagten sofort zu, da wir noch keine Pläne hatten. Plötzlich überkam mich ein vertrautes Gefühl in Renas Gegenwart. Ich glaubte, ihr schon einmal begegnet zu sein, doch mein Gedächtnis versagte. Also behielt ich es für mich. Als das Gespräch endete, verabschiedeten wir uns von Rena und gingen unserer Wege.
Lis fragte mich: „Sam, warum bist du so nachdenklich? “
„Rena kommt mir bekannt vor“, antwortete ich. „Wahrscheinlich ging sie mit mir zur Volksschule. “
„Bist du sicher? Vielleicht verwechselst du sie. “
„Nein, ich weiß es jetzt genau. Sie war sogar in meiner Klasse. “
Plötzlich kam Lis' Mutter aus dem Feinkostladen, in dem sie arbeitet, auf uns zu. Sie fragte:
„Sam, wie gefällt es dir bei uns? Hat Lis dir schon unsere schöne Umgebung gezeigt? Mit dem Schnee sieht sie noch bezaubernder aus. “
„Ja, ich habe eine kleine Führung durch das Schloss bekommen, den verschneiten Friedhof gesehen und eine kurze Geschichte über die Siedlung gehört. “
„Es ist so schön hier, dass ich glaube, ich bin in einem anderen Bundesland im tief verschneiten Winterurlaub. “
Einige Tage später war es so weit: Der Jahreswechsel stand kurz bevor. Ich war etwas aufgeregt, denn ich würde auf der Silvesterfeier wohl nur Lis und Rena kennen. Dennoch freute ich mich darauf, neue Bekanntschaften zu schließen.
Am Nachmittag erreichte ich die Gartensiedlung und ging direkt zu Lis. Punkt fünf Uhr stand ich vor ihrer Tür. Ich klingelte, Ruby öffnete und bat mich herein. Kaum eingetreten, umarmte mich Lis und gab mir einen Kuss. Magret begrüßte mich ebenfalls und eilte dann in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten.
„Was hast du in deiner Tasche, Sam? “, fragte Lis neugierig.
Ich zeigte ihr den Inhalt: eine Flasche Schampus, eine Flasche Rum und einige Glücksbringer für die Silvesterfeier.
„Gute Idee“, sagte Lis, „das passt perfekt für heute Abend. “
„Kinder, das Abendessen ist fertig“, rief Magret aus der Küche, und wir halfen gemeinsam beim Tischdecken.
Nach dem ausgiebigen Abendessen sah Lis auf die Uhr. „Sam, es wird Zeit. Wir müssen zu Renas Eltern hinüber.“
Überrascht schaute ich sie an. „Hinüber? Was meinst du? “
Magret lachte. „Ihr seid bei meinen lieben Nachbarn eingeladen, die wohnen gleich gegenüber. Ihr habt es also nicht weit zur Party des Jahres. “
Wir zogen unsere Schuhe an, als Ruby plötzlich zu weinen begann. Lis fragte ihn, warum er weinte.
„Ich möchte auch mit euch zur Party gehen. “
Magret lachte und umarmte ihn. „Du bist noch zu klein für eine Silvesterfeier. Bleib bei mir, dann sind wir nicht allein. Außerdem sehen wir die beiden später, um Mitternacht, wieder. “
Kaum erreichten wir die Nachbarn, begrüßte uns Renas Vater im Garten.
„Lis, komm mit deiner netten Begleitung weiter, das Gartentor ist offen. “
Wir traten ein, und Lis stellte uns kurz vor.
„Jetzt müsst ihr nur noch ins Haus und die Treppe hinunter in den Keller. Dort erwartet man euch schon sehnsüchtig. “ Was rede ich da, Lis? Du kennst den Weg in den Keller ja sowieso.
Unten angekommen, sah Rena uns und eilte herbei. Freudig rief sie:
„Lis! Sam! “
Im nächsten Moment umarmten wir uns herzlich und lächelten. Dann stellte sie uns den Gästen vor. Zuerst ihren neuen Freund Norbi, der Renas romantische Anziehungskraft entfacht hat, bis hin zu der Sehnsucht, die sie nicht mehr verbergen kann.
Dann kamen ihre Schwester Irma, ihr Freund Rob und die Freunde Meik, Tom und Josy. Lis nahm mir die Tasche ab und reichte sie Rena.
„Eine Kleinigkeit für die Party. “
„Danke für die Getränke“, sagte Rena.
„Was darf ich euch anbieten? “, fragte Irma in die Runde.
„Ein alkoholfreies Getränk, bitte“, sagte Lis.
„Ich hätte gerne einen Rum-Cola, wenn möglich, danke. “
Während Irma die Getränke einschenkte, unterhielt ich mich mit ihr. Ich gratulierte ihr zur Schwangerschaft und fragte nach.
„Irma, wenn ich fragen darf, in welchem Monat bist du? “
„Im sechsten, Sam, aber es fühlt sich schon wie der neunte an. “
„Wisst ihr schon, was es wird? “
„Ja, ein Junge. Rob und ich freuen uns riesig. “
„Hey Sam“, unterbrach uns Norbi, „hast du ein Auto? Wenn ja, welche Marke? “
„Ich fahre einen Opel Manta und bin sehr zufrieden. “
„Oh, ein schönes Modell“, sagte er. „Ich habe seit kurzem einen Ford Taunus. “
Plötzlich meldete sich Rena: „Der Ford hat sogar ein Armaturenbrett in Holzoptik, darauf ist er besonders stolz. “
Lis meinte: „Das Auto müsst ihr uns unbedingt zeigen, so etwas habe ich noch nicht gesehen. “
„Ja, diesen Ford Taunus möchte ich auch gerne sehen. Vielleicht haben wir später die Gelegenheit dazu“, antwortete ich.
Im selben Moment entdeckten wir Meik und Josy, die sich mit Tom am Tisch unterhielten.
„Setzen wir uns zu ihnen und plaudern ein wenig“, schlug Rena vor.
Lis kam mit Josy sofort ins Gespräch und fragte, ob sie mit Meik zusammen sei.
„Ja“, erwiderte Josy, „wir sind seit drei Jahren ein Paar. “
„Kommt ihr zufällig auch aus Simmering? “, fragte Lis neugierig.
„Nein, wir stammen wie Norbi aus dem zwölften Wiener Gemeindebezirk, Meidling. “
„Er hat uns zu dieser netten Party eingeladen. Wir sind schon lange befreundet, und Tom gehört seit kurzem dazu“, sagte Meik.
Da begann Tom plötzlich:
„Entschuldigt mein heutiges Aussehen, ich weiß, ich sehe etwas seltsam aus. Meine Eltern besitzen, wie die meisten hier wissen, eine Fleischerei, in der ich arbeite. Heute war die Hölle los, es schien kein Ende zu nehmen. Die Leute stürmten regelrecht unser Geschäft. Ich wollte nicht zu spät kommen, deshalb trage ich noch meinen weißen Arbeitsmantel. “
Tom wirkte auf mich seltsam: unruhig, zurückhaltend und als Einziger ohne Begleitung. Das machte ihn vielleicht zum Außenseiter. Er hielt Abstand zu den anderen und sprach nur über seine Arbeit, als hätte er kein anderes Thema. Es ist traurig, allein auf einer Party voller Paare zu sein. Ich hoffe, er löst sich aus seiner angespannten Stimmung und wird lockerer. Doch wer weiß, was der Abend noch bringt.
Die ganze Zeit versuchte ich, mit Rob ins Gespräch zu kommen, doch er schlich ständig um Irma herum. Rena hatte mir vorher zugeflüstert, dass Rob Irmas große Liebe ist. Und das war nicht alles, was sie mir verriet. Die Stimmung war amüsant, und wir unterhielten uns prächtig. Es fühlte sich an, als kennten wir uns schon ewig. Norbi erzählte begeistert von seiner Arbeit als Automechaniker, die er als interessant und abwechslungsreich beschreibt. An verschiedenen Automodellen zu schrauben, erfüllt ihn momentan völlig. Kein Wunder, denn er ist ein begeisterter Motorsportfan, der kein F1-Rennen verpasst.
„Sag mal, Sam,“ rief Rena mir zu, „könnte es sein, dass wir uns von früher kennen, vielleicht aus der Schulzeit? “
„Ja,“ antwortete ich, „siehst du, Lis, auch sie denkt, dass wir zusammen die Schulbank gedrückt haben. “
Rena sprang plötzlich lächelnd auf, lief die Treppe hinauf und kam bald mit einigen Schulfotos zurück. Wir betrachteten die Bilder mit großer Freude. Schnell erkannten wir uns darauf. In mir stiegen schöne Erinnerungen auf.
„Schaut nur, Sam mit seinem lustigen Haarschnitt und Rena in ihrem geliebten Schottenrock,“ schmunzelte Lis. „Wie niedlich ihr ausgesehen habt. “
Norbi fügte hinzu:
„Unglaublich, diese Mode von damals. Ihr seht darin wirklich lustig aus. “
Plötzlich stürmte Renas Mutter die Treppe herunter. Sie rief:
„Es ist bald soweit, Mitternacht naht“, und warf dabei einen gezielten Blick auf Norbi.
Norbi reagierte sofort und flüsterte Lis ins Ohr:
„Bitte sorgt dafür, dass Rena mir nicht folgt. Ich bereite das Feuerwerk mit einer kleinen Überraschung für sie vor. “
Lis lenkte Rena mit einem amüsanten Gespräch ab, sodass sie Norbis Abgang nicht bemerkte. Renas Mutter setzte sich zu uns an den Tisch und fragte mich, wie es mir hier gefalle.
„Sehr gut, danke für die freundliche Gastfreundschaft“, erwiderte ich höflich.
„Gern geschehen“, antwortete sie und erklärte mir, wie viel ihr an Lis liege. Sie würde es sehr begrüßen, wenn Lis in guten Händen sei, da ihre Mutter Margret nicht nur eine Nachbarin, sondern auch eine gute Freundin sei.
„Das verstehe ich gut“, sagte ich. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde mein Bestes geben, um dem gerecht zu werden. “
„Nur noch fünf Minuten, wir sollten jetzt nach draußen gehen“, sagte Irma.
Alle folgten ihr.
Oben in Reihe 7 trafen wir ein, und die Nachbarn kamen aus ihren Häusern, um mit uns den Jahreswechsel zu feiern. Margret stieß mit Ruby zu uns und brachte Gläser und eine Flasche Schampus mit. Lis nahm ihr die Gläser ab, während Margret den Korken knallen ließ und einschenkte. Alle lächelten und hielten die gefüllten Gläser. Man hörte nur: „Gleich ist es so weit. “ Renas Vater begann laut zu zählen, und alle stimmten ein: 3, 2, 1, Prosit.
Das Feuerwerk begann, und wir umarmten oder küssten einander, wünschten Glück und stießen auf das neue Jahr an. Einige tanzten ein paar Schritte zum Donauwalzer, der aus Kellerfenstern erklang. Die anderen verteilten freudig ihre Glücksbringer. Trotz des Andrangs richteten sich alle Blicke auf das Feuerwerk, das Norbi für Rena vorbereitet hatte. Es enthielt den Schriftzug: „Prosit, meine viel geliebte Rena“, gefolgt von einem sprühenden Herz. Ich hielt Lis fest in den Armen, küsste sie und sagte:
„Norbi hat das großartig gemacht. Die Überraschung ist ihm gelungen.
“ Lis nickte und sagte: „Schau, Rena hat Tränen in den Augen. Wie süß. “
Nach einer halben Stunde angeregter Unterhaltung und einigen Gläsern Schampus trennten wir uns und kehrten in unsere Häuser zurück. Im Keller von Renas Eltern kamen wir alle wieder zusammen. Rena und Irma deckten den Tisch für das traditionelle Bleigießen. Rob versorgte uns mit Getränken und einem kleinen Mitternachtssnack. Dann begannen wir mit dem Bleigießen. Nach etwa einer Stunde hielten wir unsere gegossenen Bleifiguren in den Händen. Mit viel Fantasie gaben wir jedem Werk einen passenden Namen.
Währenddessen legte Rob Kuschelsongs auf, zu denen einige von uns mehrmals tanzten. Nach einiger Zeit schlug Tom plötzlich vor:
„Lasst uns ein Spiel spielen. “
Seine Stimme verriet Langeweile. Ich war überrascht, denn ausgerechnet Tom wollte spielen. Er hatte den ganzen Abend kaum ein Wort gesagt, es sei denn, man sprach ihn direkt an. Meistens saß er nur da, den Kopf gesenkt, trank ein Glas Wein nach dem anderen und zeigte einen eigenartig enttäuschten Blick. Doch wir stimmten zu, alle waren sich einig: Ein Spiel sollte es sein, ohne großen Aufwand. Für ein Kartenspiel waren wir zu viele, aber ein lustiges Frage-Antwort-Spiel reizte alle. So entschieden wir uns für „Wer oder was bin ich“.
Es war sehr unterhaltsam und bereitete jedem großen Spaß; niemand blieb ohne Lächeln. Außer Tom, dem das Lächeln schwer fiel. Nach einigen Runden merkten wir, dass die Begeisterung für das Spiel nachließ. Also beschlossen wir, es zu beenden.
Tom zappelte nervös. Rena fragte, ob alles in Ordnung sei.
„Ja“, sagte er, „aber ich möchte noch ein Spiel spielen. “
„Hast du eine Idee? “, fragte Norbi.
„Flaschendrehen für Erwachsene“, schlug Tom vor.
„Mit Ausziehen und so? Bist du verrückt? “, spottete Rena.
Rob unterstützte Tom:
„Nein, natürlich nicht. Aber wie wäre es, ein Getränk auf Ex zu trinken oder mit verbundenen Augen etwas zu essen und zu erraten, was es ist? “
„Josy: Klingt lustig, ich bin dabei. “
„Norbi: Lasst uns anfangen. “
„Lis: Einverstanden. “
Da rief ich:
„Gut, wir brauchen eine leere Champagnerflasche. “
Irma brachte die Flasche und stellte sie auf den Tisch. Wir klärten kurz die Regeln: Der Flaschendreher bestimmt die Aufgabe, die der Verlierer, bei dem der Flaschenhals stehen bleibt, ausführen muss. Dann starteten wir. Ich drehte die Flasche und nannte die Aufgabe: Mit verbundenen Augen ein gemixtes Getränk auf einmal austrinken. Der Flaschenhals zeigte auf Josy. Lis verband ihr die Augen, während Rob das Getränk aus verschiedenen Alkoholsorten mischte. Josy trank es mit verzogenem Gesicht aus. Wie abscheulich ein Getränk sein kann! Wir lachten schadenfroh.
Als Nächstes drehte Irma die Flasche und verkündete die Aufgabe: Die Hand zehn Sekunden über eine brennende Kerze halten. Der Flaschenhals blieb bei Rob stehen.
„Tut mir leid, mein Liebling“, sagte Irma, während Norbi die Kerze brachte und Meik sie anzündete. Rob krempelte den Ärmel hoch und hielt die Hand etwa 15 cm über die Flamme. Wir zählten laut, und Robs Gesicht verriet den Schmerz, den er ertrug. „Geschafft“, seufzte er, wischte sich den Schweiß von der Stirn und kühlte seine Hand.
Rena war aufgebracht.
„Schluss mit dem blöden Spiel, das geht zu weit“, sagte sie.
Josy und Irma stimmten zu.
„Das Spiel wird gefährlich, ich höre auch auf“, sagte Lis scharf.
Verärgert gingen sie zu Renas Eltern, um sich zu beschweren. Rob rief:
„Nein, wir Männer spielen weiter, oder? Diesmal ziehen wir Karten, der mit der niedrigsten verliert. “
Er holte Karten aus der Schreibtischlade und legte sie auf den Tisch. Tom und Meik waren sofort dabei. Norbi und ich zögerten kurz, stimmten dann aber zu. Leise sagte ich zu Norbi:
„Lass uns darauf achten, dass der Abend nicht ausartet. “
Er nickte zustimmend.
Meik mischte die Karten und legte sie gestapelt auf den Tisch. Dann verkündete er eine Aufgabe:
„Dem Verlierer werden die Augen verbunden, und man sticht ihm mit einer Nadel in beide Daumen. “
Wir sahen uns schweigend und erschrocken an, keiner wollte sich zu dieser absurden Aufgabe äußern, also akzeptierten wir sie stillschweigend. Meik zog die erste Karte, und einer nach dem anderen folgte ihm. Als ich an der Reihe war, dachte ich nur: „Bitte nicht die niedrigste Karte. “ Doch genau die zog ich.
Tom rief sofort:
„Lasst mich ihm in die Daumen stechen! “
Wir sahen uns verblüfft an. Ich rief erstaunt:
Der sonst so schüchterne Tom will das wirklich tun?
Tom nickte zögernd. Die anderen berieten sich kurz und stimmten schließlich zu.
Meik band mir die Augen zu, ich konnte es fühlen, wie versessen Tom war mir die Nadel in die Daumen zu stechen. Er fing mit dem linken Daumen an, kurzer stich mit kurzem Schmerz, danach gleich der rechte Daumen. Dabei spürte ich wie er ein wenig langsamer und tiefer stach. Sofort zuckte ich reflexartig zurück, danach war es auch schon vorbei. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte mir den Schmerz nicht anmerken zu lassen, da ich mir keine Blöße vor Tom geben wollte. Meik nahm mir wieder die Binde ab, zugleich reichte mir Norbi ein Tuch, um das Blut abzutupfen. Tom dagegen hatte sichtlich ein großes Vergnügen, wenn andere Schmerzen verspürten. Zumindest könnte man das so deuten, bei diesem höhnischen Grinsen im Gesicht.
Norbi rief,
„Hört meine Freunde, lasst uns aufhören.“
Tom voll Zorn erregt,
„Nein, ich möchte, dass wir noch einmal jeder eine Karte ziehen.“
Obwohl wir auf Norbis Seite waren, ließen wir uns von Tom irgendwie überreden und gaben nach.
Rob sprach mit fester Stimme: Die letzte Aufgabe muss etwas Besonderes sein.
Norbi fragte: „Was habt ihr im Kopf?
“Meik und ich hatten keine aufregenden Ideen, also schlugen wir nichts vor. Tom hatte zwar einige Einfälle, doch sie waren entweder nicht spannend genug oder schwer umsetzbar. Dann kam Rob mit einem außergewöhnlichen Vorschlag:
Der Verlierer muss sich trauen, auf den Friedhof zu gehen, ein Holzkreuz von einem frischen Grab zu holen und es uns zu bringen? Kaum hatte Rob das gesagt, verschlug es mir die Sprache. Ich war fassungslos über diese verrückte Idee.
Norbi rief: „Sam, alles in Ordnung? Dein Blick wirkt kritisch. “
„Nein, alles ist gut, lasst uns weitermachen. “
Ich behielt meine Gedanken für mich, denn die anderen fanden es eher aufregend als verrückt. Mit ihrem Einverständnis mischte ich die Karten und legte sie auf den Tisch. Gerade wollte ich eine Karte ziehen, da unterbrach mich Tom. Er rief plötzlich:
„Ihr habt sowieso nicht den Mut dazu, man sieht euch die Angst an. Deshalb übernehme ich die Aufgabe freiwillig und beweise euch meine Furchtlosigkeit. “
Ich sagte:
„Tom, bitte nicht, du hast zu viel getrunken und kennst dich auf dem Friedhof nicht aus. In der Dunkelheit könntest du dich in Gefahr bringen. “
Doch Tom ließ sich nicht abhalten, im Gegenteil, er bestand immer heftiger darauf, die Tat umzusetzen. Rob redete auf ihn ein und beruhigte ihn schließlich, konnte ihn aber nicht abbringen.
„Na gut“, sagte Rob, „wenn du die Aufgabe unbedingt erfüllen willst, dann machen wir es so. “ Wir begleiten dich gemeinsam zum großen Tor des Friedhofs, dort erkläre ich dir die nächsten Schritte.
Auf dem Weg erzählte uns Rob von einem kürzlich verstorbenen alten Mann, den alle Fichtel nannten. Niemand wusste, ob das sein richtiger Name war oder wie er mit Vornamen hieß. Er war ein griesgrämiger Mensch mit mürrischem Gesicht, der Kinder nicht ausstehen konnte und immer schlechte Laune hatte. Er lebte lange einsam in der Siedlung und sprach nie ein Wort mit seinen Nachbarn.
Kaum am Friedhof angekommen, zeigten wir Tom das große eiserne Tor, das nur mit einer Kette leicht verschlossen war. Rob erklärte ihm den Weg zum Grab des alten Herrn Fichtel:
Gleich nach dem Tor rechts, dann etwa 150 Meter den schmalen Pfad entlang und nach links, noch etwa 5 Meter. Dann stehst du vor dem Grab. Orientiere dich an den leuchtenden Kerzen bei den Gräbern, sie weisen dir den Weg.
Tom wirkte auf uns etwas geistesabwesend. Rob schüttelte ihn und rief:
„Tom, hast du alles verstanden? “
„Ja“, antwortete Tom verwirrt.
Ich versuchte ihn zu überreden:
„Tom, du musst das nicht tun. Wir alle wissen, dass du mutig bist, du musst es uns nicht beweisen. “
Norbi und Meik stimmten mir lautstark zu. Doch Tom blieb stur, hörte nicht mehr auf uns und schrie:
„Helft mir lieber, das Tor aufzudrücken, statt zu jammern. “
Nach kurzer Beratung lösten Meik und Norbi die Kette etwas und drückten das Tor mit aller Kraft einen Spalt auf. Gerade so viel, dass Tom hindurch passte. Er zwängte sich mit Robs und meiner Hilfe durch den Spalt und verschwand ohne einen Blick zurück in der Dunkelheit. Uns blieb nur, abzuwarten und zu hoffen, dass Tom unversehrt zurückkehrt. Ich starrte auf die Uhr. Fünfzehn Minuten vergingen, und Tom war noch nicht zurück. Langsam stieg Unruhe in mir auf.
Plötzlich leuchteten zwei Augen in der Dunkelheit hinter dem eisernen Tor auf. Je näher sie kamen, desto deutlicher erkannte man die Gestalt.
„Gott sei Dank“, rief ich erleichtert.
Es war Tom.
„Seht her, ich habe das Grab mit dem Kreuz gefunden“, schrie er.
Erschöpft, aber mit einem zufriedenen Lächeln, stand er vor uns, nur das Tor trennte uns. In seiner Hand hielt er das Holzkreuz mit der Inschrift „Hier ruht Fichtel“. Wir jubelten ihm zu: „Du hast es geschafft, Tom! “ und streckten unsere Hände durch das Tor, um ihm zu gratulieren. Stolz und voller Emotionen, mit Tränen in den Augen, genoss er diesen Moment wie einen Sieg.
Kurz darauf sagte Rob zu Tom:
„Bring das Kreuz zurück und komm gleich wieder zu uns. Wir warten hier am großen Tor auf dich.“
Tom nickte freudestrahlend und verschwand in der Dunkelheit. Minuten später hörten wir plötzlich Hilfeschreie aus dem Friedhof, genau aus Toms Richtung. Besorgt um ihn zögerten wir nicht und griffen ein. Norbi und ich stießen das Tor auf. Rob und Meik gingen voran und hielten es für uns von innen offen. Dann rannten wir alle so schnell wie möglich zum Grab von Herrn Fichtel. Rob führte uns mit einer Abkürzung an. Als wir ankamen, traute ich meinen Augen kaum. Der Anblick war äußerst besorgniserregend.
Der Gedanke an Toms Zustand lähmte mich vor Schreck. Er lag bewusstlos am Boden, eine blutende Wunde klaffte an seinem Kopf. Offenbar hatte er sich diese beim Sturz zugezogen, denn sein Kopf ruhte auf einem großen Stein des Nachbargrabes, das mit vielen Steinen bedeckt war. Das Holzkreuz hatte er tief in die Erde gerammt und dabei auch seinen weißen Arbeitsmantel durchbohrt. Norbi leistete sofort Erste Hilfe, Meik und ich halfen ihm. Der Stress ließ mein Adrenalin steigen und löste meine Starre. Dramatische Sekunden und Minuten folgten, Panik breitete sich aus. Norbi rief:
„Er hat keinen Puls mehr! “
Er begann sofort mit der Herzmassage. Meik übernahm die Mund-zu-Mund-Beatmung, während Norbi und ich uns abwechselten. Trotz unserer Erschöpfung gelang es uns schließlich, Tom wieder zu Bewusstsein zu bringen. Ohne zu zögern, rief ich Rob zu:
„Lauf nach Hause, hol Hilfe und verständige die Rettung. “
Er sprang auf und rannte los. Ich sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwand. Tom, noch benommen und zitternd, mit blasser Haut, erzählte uns das Unfassbare. Er berichtete verwirrt, dass er das Holzkreuz mit aller Kraft in den Boden rammte. Als er das Grab eilig verlassen wollte, hielt ihn etwas zurück. Er war überzeugt, dass die Hände von Herrn Fichtel aus dem Grab kamen, seine Füße packten und ihn hinunterziehen wollten. Vor Angst schrie er um Hilfe, was zu einer Überreaktion führte. Dann wurde ihm schwarz vor Augen, und er fiel in Ohnmacht. Er erinnerte sich nur noch daran, unsere Stimmen zu hören und seine Augen zu öffnen.
„Unglaublich“, sagte ich zu Norbi und Meik.
„Tom hatte nicht bemerkt, wie er das Holzkreuz mit voller Kraft in die Erde rammte, dabei seinen Arbeitsmantel durchbohrte und sich einklemmte. Deshalb konnte er sich nicht mehr bewegen. “Norbi schüttelte fassungslos den Kopf. Meik sagte besorgt:
„Kommt, helft vorsichtig mit. Wir müssen Tom zum eisernen Tor tragen. Danach bleibt uns nur zu hoffen und auf Hilfe zu warten. “
Endlich dort angekommen, völlig durchnässt vom Schweiß, sahen wir die anderen bereits auf uns zulaufen.
Renas Vater zwickte die Kette am Tor mit einer Zange auf. Irma legte Tom eine wärmende Decke um. Rena fiel Norbi überglücklich in die Arme. Josy hatte Tränen in den Augen, als sie Meik erblickte. Lis umarmte mich und flüsterte:
„Gott sei Dank, dir ist nichts geschehen. “
Wir waren überglücklich, als die Sirenen des Rettungswagens ertönten. Schließlich brachte man Tom, geschwächt, aber ohne lebensgefährliche Verletzungen, ins Krankenhaus. Erschöpft gingen wir im Morgengrauen nach Hause, innerlich erleichtert, aber auch nachdenklich und bedrückt über das unfassbare Erlebnis.
Schlusswort
Der menschlichen Überzeugung, ihr könne nichts geschehen, geht oft die sture Entschlossenheit voraus. So wie der Mut sich oftmals in den leichtsinnigen Übermut verwandelt.
Kurzgeschichte aus Simmering
Andreas K.
(a Simmeringer Gschichdldrucka, wi´ra im biachl schdeht)